Deutsche und lateinische Literatur 9.-13. Jahrhundert

Während die früheste weltliche Gebrauchsliteratur in Bayern noch an die lateinische Sprache gebunden bleibt, treten erste dichterische Versuche christlichen Inhalts in Althochdeutsch erst zu Beginn des 9. Jahrhunderts auf. Der Stabreim bildet dabei das metrische Grundgerüst: im Wessobrunner Gebet (vor 814) und in seinem Gegenstück Muspilli. Das Gebet in bairischer Schreibsprache ist als glaubensfroher Schöpfungshymnus zu lesen; dagegen zielt das nach dem Wort für Weltuntergang "Muspilli" genannte Gedicht auf ein adliges Publikum mit richterlicher Macht.

Neben geistlicher Belehrung steht die fromme Praxis des Petrusliedes, des ältesten deutschsprachigen Kirchenliedes, das Ende des 9. Jahrhunderts in Freising aufgezeichnet worden ist. Zusammen mit dem Evangelienbuch des südrheinfränkischen Dichters Otfrid von Weißenburg (um 800-870) besitzt es eine gemeinsame Verszeile. Das aus den vier Evangelien kompilierte Bibelgedicht ist das umfangreichste Dichtwerk der Karolingerzeit und gelangt im Auftrag Bischof Waldos von Freising (884-906) zur Abschrift. Im Gegensatz dazu schildert das altsächsische geistliche Epos Heliand das Erdenleben Christi von seiner Geburt bis zur Himmelfahrt.

Eine neue Epoche beginnt um die Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert im Angesicht der Ungarn-Stürme. An der Spitze steht das neugegründete Kloster Tegernsee als eines der ältesten und wichtigsten literarischen Zentren Bayerns. Die dort entstandene Brief- und Liedersammlung Froumunds (ca. 960-1008) vermittelt einen kulturgeschichtlichen Einblick ins Klosterleben. Aber auch der erste weltliche Versroman in lateinischer Sprache aus der Sphäre ritterlichen Lebens wird hier entworfen: der Ruodlieb (um 1050). Weitere in Tegernsee entstehende Werke sind der Ludus de Antichristo, ein lateinisches Drama vom Kampf zwischen dem christlichen Endkaiser und dem Antichrist (um 1160), und der mit ihm überlieferte Tegernseer Liebesgruß, das älteste Liebesgedicht in deutscher Sprache ("Du bist min ih bin din").

Das Ende der althochdeutschen Periode markiert das erste große Werk frühmittelhochdeutscher Sprache, wenngleich im Banne geistlicher Tradition: die Expositio in Cantica Canticorum des Williram von Ebersberg (gest. 1085), die erste Übersetzung und volkssprachliche Kommentierung des Hoheliedes in einer lateinisch-deutschen Mischprosa. Als erste Übertragung der biblischen Psalmen in Bayern tritt Ende des 12. Jahrhunderts im Prämonstratenserkloster Windberg bei Straubing die lateinisch-deutsche Sammlung der Windberger Psalmen hervor. Und in Augsburg verfasst Priester Wernher 1172 eine der großen Mariendichtungen aus biblischer und apokrypher Tradition, die Driu liet von der maget.

In Ansatz und Entwicklung exemplarisch ist die hochmittelalterliche wissenschaftliche Geschichtsschreibung in Bayern. Die Gattung der Weltchronik erreicht in der Chronica sive Historia de duabus civitatibus des Bischofs Ottos I. von Freising (um 1112-1158) ihren vorläufigen Höhepunkt. Dabei wird die der Heilsgeschichte untergeordnete Faktenfülle zum ersten Mal einem genuin historischen Erkenntnisgewinn ausgesetzt. Demgegenüber markiert die wohl aus der Feder eines anonymen Regensburger Geistlichen stammende Kaiserchronik als erste deutsche Weltchronik den imperialen Herrschaftsanspruch des Welfengeschlechts.

Ebenfalls von beispielhaftem, ja weltliterarischem Rang sind die Carmina Burana, eine nach dem Kloster Benediktbeuern benannte Sammlung überwiegend lateinischer weltlicher Dichtung, die im südlichen Alpenraum um 1230 entstanden ist.