Reichsstädtische Literatur 15.-16. Jahrhundert

Ein ganz anderes literarisches Leben als in der wittelsbachischen Residenzstadt München entwickelt sich im 15. und 16. Jahrhundert in den reichsunmittelbaren Städten Augsburg und Nürnberg. Sie bilden literarische Zentren für ihr jeweiliges Umland und vereinigen zugleich die neue Wissensliteratur universitärer Provenienz, also von frühneuhochdeutschen Texten der "septem artes liberales" (Rhetorik, Grammatik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik), Medizin sowie Theologie der habsburgischen Wiener Schule. Ebenfalls blüht in diesen Reichsstädten – neben der stadtbürgerlichen Chronistik (Weltchronik, Chronik von Augsburg, Buch der Croniken und geschichten) – die Ausformung der spätmittelalterlichen Liedgattung auf. Hier sind besonders das Augsburger Liederbuch von 1454, das Liederbuch der Augsburger Berufsschreiberin Clara Hätzlerin (1471), das sog. Lochamer-Liederbuch des Nürnberger Patriziers Lochamer (um 1452/60) sowie das (Münchener) Liederbuch des Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel (1440-1514) zu nennen. Letzteres ist während Schedels Studienjahren 1461-67 entstanden und ein wichtiges Zeugnis für das deutsche Tenorlied der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.

Daneben existiert das – vor allem in Nürnberg beheimatete – zunftmäßig organisierte Phänomen des Meistersangs. Dieser wird in fester Singschultradition nach strengen metrisch-musikalischen Regeln gepflegt. Die Meisterlieder stehen in vielem der höfischen Sangspruchdichtung des späten 12. und 14. Jahrhunderts nahe, deren Melodien und Strophenformen sie übernehmen. Die Strophen folgen dabei dem Kanzonenschema (AAB), mit zwei Stollen im Aufgesang (A) und dem Abgesang (B). Zu den wichtigsten Nürnberger Vertretern des Meistersangs zählen – neben Muskatblüt (um 1390-1458?) und Michel Beheim – die Meistersinger Hans Folz (1435/40-1513) und Hans Sachs (1494-1576). Die vorliegende Handschrift (Meisterlieder) ist teilweise Autograph und stellt die Hauptüberlieferungsquelle für Folz' Liedkunst dar; zugleich ist sie Beleg für die vermutlich von ihm mitbegründete Nürnberger Singschule. Seinen Höhepunkt erlebt der Nürnberger Meistersang jedoch im 16. Jahrhundert mit Hans Sachs. Der Schuhmachermeister ist der bekannteste Vertreter der reichsstädtisch-bürgerlichen Literatur des 16. Jahrhunderts – durch sein Wirken wird das Meisterlied zu einem Sprachrohr der Reformation. Im vorliegenden Meisterlieder-Band von Linhart Ferber (vor 1559-1585) mit über 160 Meisterliedern aus den Jahren 1530 bis 1593 sind neben Werken von Linhart Ferber, Sebastian Wild (gest. nach 1538) und Benedikt von Watt (1569-1616) auch 13 eigenhändige von Hans Sachs (1494-1576) zu finden.

Meisterlieder werden von Interessenten solcher Kunst schon früh in Codices gesammelt. Mit rund 940 Liedern mit Melodien, überwiegend aus dem späten 14. und der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, ist die höchstwahrscheinlich 1459/62 in Speyer entstandene und 1857 nach München gelangte Kolmarer Liederhandschrift die wohl umfangreichste und bedeutendste Handschrift dieser Art.

Eine weitere im spätmittelalterlichen Nürnberg vielgepflegte Gattung (zu ergänzen wäre noch das Fastnachtspiel) findet ihren Ausdruck im Reimpaarspruch didaktischen oder schwankhaften Charakters. Städtelob, politisch-historische Themen, geistliche Reden etc. gehören zu dessen Repertoire. Der Nürnberger Hans Rosenplüt (um 1400-1460), erster namentlich bekannter Handwerkerdichter der deutschen Literatur, Märendichter des Mittelalters und Wegbereiter des Nürnberger Meistersangs, hat sich darin versucht. Von ihm stammt das früheste deutschsprachige Beispiel eines Städtelobgedichts humanistischer Prägung, sein Spruch von der Stadt Nürnberg (1447). Aber auch die Gattung des Prosaromans, die sich im ausgehenden 15. Jahrhundert im Buchdruck etabliert, erreicht in einer anderen Reichsstadt erstmalig einen Gipfelpunkt – das 1509 bei Johann Otmar in Augsburg gedruckte Volksbuch Fortunatus, der "erste bürgerliche Roman". Geschildert wird hier Aufstieg und Fall einer zypriotischen Kaufmannsfamilie in zwei Generationen.