Mythos
Wahrnehmung von Ludwig II. im Wandel der Zeit
Ludwigs Mythos beginnt mit seinem Tod. Aus dem zu Lebzeiten oft negativ empfundenen Herrscher wurde eine Identifikationsfigur unterschiedlichster Menschen, die in ihm vor allem das sahen, was sie wollten. Verbreitung fand dies zunächst durch literarische Verarbeitungen, bald auch durch Theater, Film und unzählige Produkte der Kitschindustrie.
Wird von Ludwig II. gesprochen, dann geht es meist um eine Projektionsfläche eigener Wünsche, die mit der historischen Gestalt kaum übereinstimmt. Drei Narrative dominieren: Isolierung und Unverstandenheit des schönen jungen Monarchen, der Bau der Schlösser als märchenhafte "Gegenwelten" und schließlich sein rätselhafter Tod. Als "roi maudit" wird Ludwig zum Kronzeugen für eigene Träume. Bereits zu Ludwigs Lebzeiten sah man ihn unterschiedlich, wie seine Rolle bei der Reichsgründung zeigt. War er einerseits "Geburtshelfer des Deutschen Kaiserreichs" und "Ludwig der Deutsche", sahen ihn andere als Verräter der bayerischen Freiheit. Nach Ludwigs Tod kam es vor allem in der oberbayerischen Landbevölkerung zur Heroisierung. Hier wurde er als volksverbundener Herrscher und Verteidiger bayerischer Souveränität verklärt. In der Zeit der Weimarer Republik kam es zu einer positiven Neubewertung von Ludwigs Bauten, seine Persönlichkeit war dagegen bis 1945 meist negativ konnotiert.
Nach dem Zweiten Weltkriegs fand in der BRD eine Neubewertung Ludwigs statt. Die Bevölkerung liebte die Vorstellung eines friedensliebenden Königs, der einer preußisch-militärischen Realität entflieht. Der erfolgreiche Film von Helmut Käutner (1955) unterstrich dies. Es entstand ein wahres "Neuschwanstein-Fieber". Das amerikanische Magazin LIFE betitelte eine Sonderausgabe "Germany, a giant awakened". Auf dem Titelblatt dominiert das "Märchenschloss" Neuschwanstein des bayerischen Königs. Luchino Viscontis Filmepos "Ludwig II." (1973) mit Helmut Berger tat das seine, um den modernen Mythos des Märchenkönigs, der an seiner Welt zerbricht, in die Welt zu tragen.
Friedrich Röhrer-Ertl
Gedenken an König Ludwig II.
Das Gedenken an einen verstorbenen Herrscher manifestiert sich häufig auch in öffentlich aufgestellten Denkmälern. Bei Ludwig II. ist dies nicht anders, allerdings mit der Besonderheit, dass von anderen Monarchen nicht bis in das 21. Jahrhundert hinein eine Vielzahl neuer Denkmäler errichtet worden ist. Bereits kurz nach seinem Tod strebten private Initiativen im bayerischen Oberland und in München eine derartige Ehrung des Königs an. Ursächlich dafür war wohl die rasch einsetzende Verklärung Ludwigs, die vor allem mit den mysteriösen Todesumständen und dem für die Öffentlichkeit kaum nachvollziehbaren Agieren der Regierung zu begründen ist. Seinen Rückzug vom Münchner Hof und die sehr häufigen Aufenthalte im Voralpenland und im Gebirge, zu Ludwigs Lebzeiten vielfach kritisiert, deuteten Teile der bayerischen Bevölkerung jetzt als besondere Volks- und Heimatverbundenheit. Nachdem bis 1895 mehrere Denkmäler privat finanziert und aufgestellt worden waren, beteiligte sich nun auch die königliche Familie an deren Förderung. Ein besonderer Gedenkort ist die Votivkapelle in der Nähe von Schloss Berg am Starnberger See; dort versammeln sich alljährlich am Todestag Ludwigs II. die Wittelsbacher-Familie und Königstreue zum Gebet.
Matthias Bader
Internationale Deutungen
Fairy Tale King, Mad King, Re del suo sogno, Roi Lune, Swan King – so zahlreich wie die Beinamen Ludwigs sind die Sichtweisen auf ihn, gerade auch außerhalb Bayerns und Deutschlands. Zu Lebzeiten betonten internationale Autoren meist noch den "Wahnsinn" des Königs, etwa Mark Twain (A Tramp Abroad, 1880). Mit Ludwigs Tod überwog dann die Deutung des Königs als Mann der Künste und Förderer Richard Wagners, der an seiner Umwelt und am kunstfeindlich wahrgenommenen preußisch-deutschen Kaiserreich zerbrechen musste. Bereits im Todesjahr besang ihn so Paul Verlaine: "Ihr wart […] der einzige König dieses Zeitalters, in dem die Könige so wenig bedeuten".
Nach dem I. und insbesondere seit dem II. Weltkrieg tritt zu dieser Sicht auf Ludwig II. eine, die in ihm einen Friedenskönig sieht, eine Alternative zum preußisch-deutschen Militarismus Bismarcks und Wilhelm I., der zu den Weltkriegen geführt hatte. Gerade auch die international erfolgreichen Ludwig II.-Filmbiographien von Helmut Käutner (1955) und Lucchino Visconti (1973) bedienen dieses Bild und verknüpfen es erfolgreich mit dem Bild einer unglücklichen Liebe zu Elisabeth von Österreich.
Zuletzt wurde Ludwig auch als queere Ikone entdeckt, der etwa 1996 Held in einem Boys Love-Manga der japanischen Zeichnerin Higuri You sein darf.
Bereits im späten 19. Jahrhundert lässt sich bei alledem eine zunehmende Kommerzialisierung Ludwigs beobachten, die mit einer Entpolitisierung, ja sogar Ent-realisierung des Menschen und Königs einhergeht. Die Figur des immerjungen, träumenden König Ludwig wird zu einer Identifikationsfläche aller Art. Das Bild des dicklichen, unglücklichen Ludwig der späten Jahre wird dagegen ausgeblendet.
Friedrich Röhrer-Ertl