Der „Kaiserbrief“

Der bayerische König Ludwig II. (1845-1886) sollte als zweitmächtigster der Bundesfürsten gewonnen werden, um dem preußischen König Wilhelm I. (1797-1888) die Kaiserkrone anzubieten. Eine Initiative aus dem Parlament galt es dabei zu vermeiden, war das Reich doch als ein Bund der Fürsten konzipiert. Bismarck diktierte dafür den Brief Graf Maximilian von Holnstein (1835-1895), dem engsten Vertrauten und wichtigsten Berater Ludwigs II. Am 30. November fand sich Holnstein in Hohenschwangau ein, wo Ludwig II. sich gerade aufhielt. Es kam zu Diskussionen und Holnstein musste Überzeugungsarbeit leisten. Er versuchte zu verdeutlichen, dass eine Weigerung die bayerische Krone gefährden würde.

Diese für ihn "geradezu herabwürdigende Rolle" widerstrebte Ludwig II. allerdings stark. Mit eingefügten Änderungen des bayerischen Außenministers Otto von Bray-Steinburg (1807-1899) schrieb Ludwig II. den Briefentwurf am 30. November 1870 schließlich widerwillig ab und unterzeichnete ihn. Im Schreiben ist nicht nur die Rede von der Wiederherstellung des deutschen Kaisertums, sondern auch des Deutschen Reiches. Hervorgehoben wird darin im Unterschied zu Bismarcks Entwurf die Mitwirkung der verbündeten Fürsten. Nachdem Holnstein das Schreiben weisungsgemäß noch dem Kabinettssekretär August von Eisenhart (1826-1905) vorgelegt hatte, wurde der "Kaiserbrief" nach Versailles gebracht. Am 3. Dezember 1870 übergab Ludwigs Onkel, der spätere Prinzregent Luitpold von Bayern (1821-1912), das Schreiben an den preußischen König. Unmittelbar nach der Abfassung des Briefs hatte König Ludwig, wie darin angekündigt, Schreiben an die deutschen Fürsten und Freien Städte gerichtet, in denen er das Vorhaben beschrieb. Erwidert wurden diese ausschließlich mit Zustimmung. Diese wiederum übermittelte Ludwig II. am 16. Dezember telegrafisch dem preußischen König Wilhelm nach Versailles.

Welche Empfindungen der bayerische König mit dem Schreiben verband, wird in einer „Rechtfertigung“ Ludwigs an Luitpold vom 4. Dezember deutlich: "Gewiß wirst Du zugeben, geliebter Onkel, daß jene Gründe, die mich zu jenem unseligen Anerbieten bestimmte, triftige waren, daß ich es einzig nur im Interesse der Krone und Bayerns that, nie aber, so lange ich lebe, werde ich mich darüber trösten, stets in tiefster Seele beklagen, daß die Ereignisse dieses furchtbare Opfer forderten. – Ich brachte dasselbe gedrängt durch die unselige politische Lage, die wir der satanischen, preußischen Politik zu verdanken haben, einen wirklich freien Entschluß kann man es nicht nennen."

Bis heute umstritten ist die Frage, ob Ludwig II. von Preußen bestochen wurde. Konkrete finanzielle Zusagen machte Bismarck zwar erst im Frühjahr 1871, also nach der Reichsgründung. Allerdings kam es bereits Ende 1870 zu Verhandlungen über Zahlungen an den bayerischen König. Von 1871 bis 1886 zahlte Preußen dann auch unter Geheimhaltung Beträge in Höhe von fünf Millionen Mark aus dem Welfenfonds in die Hofkasse – d.h. in die "Privatschatulle" – des bayerischen Königs.

Julia Misamer