Die Tora-Wimpel-Sammlung aus Ichenhausen

Strenggläubigen Juden ist es verboten, Schriften, die den Gottesnamen tragen, zu vernichten: Unbrauchbare Tora-Rollen werden auf dem Friedhof begraben, alles andere wird an einem abgesonderten Ort, z.B. in einer Genisa (Depot zur Lagerung u.a. von Schriften) aufbewahrt und dem natürlichen Zerfall überlassen. In Mittel- und Osteuropa nutzte man die Dachböden der Synagogen als Ablageorte, insbesondere den Raum zwischen Gewölbe und Dachsparren. So kamen in den 1980/1990er-Jahren in vielen ländlichen Synagogenbauten Süddeutschlands etliche Genisot zum Vorschein. Ein großer Teil war bereits zuvor vernichtet, vom aufgefundenen Rest manches ins Ausland gebracht und verkauft worden. Dieses Schicksal betraf auch die Genisa Ichenhausen; gleichwohl sind noch verschiedene Teile vorhanden: 1992 und 1994 wurden auf dem Dachboden der ehemaligen Synagoge weitere Teile einer Genisa geborgen, darunter (Fragmente von) Druckwerke(n), Handschriften, ein Tora-Mantel, ein Schuh für die Scheidungszeremonie, Holzschaber für die Mazzenherstellung (Mazzen = ungesäuertes Fladenbrot) und unbrauchbar gewordene Gebetsriemen. Der Fund beinhaltete außerdem 90 Tora-Wimpel (hebr. "Mappa", dt. "Tuch", nicht gestaltete oder kunstvoll bestickte oder bemalte Bänder, mit denen die Tora-Rollen umwickelt wurden). Die kaum mehr kenntlichen Wimpel stammen aus dem Zeitraum von 1664 bis 1784. Experten zufolge stellen sie heute einen einzigartigen Schatz jüdischer Volkskultur im südwestlichen Deutschland dar.

Als Symbol für die Aufnahme in die jüdische Gemeinde und die Pflicht, nach den Geboten der Tora zu leben, erfolgt bei jüdischen Jungen acht Tage nach der Geburt die Beschneidung. Seit dem 16. Jahrhundert bildete sich in den deutschsprachigen aschkenasischen Gemeinden der Brauch heraus, zu diesem Anlass einen Tora-Wimpel zu gestalten. Angefertigt wurde er meist von Frauen der nahen Verwandtschaft aus dem Tuch, auf dem der neugeborene Knabe bei seiner Beschneidung lag. Gewöhnlich wurde dieses in vier Streifen zertrennt. Aneinandergenäht ergaben sie etwa ein ca. drei Meter langes Band. Der für Ichenhausen typische Tora-Wimpel ist um 320 bis 360 cm lang und 15 bis 20 cm breit. Mit hebräischer Zierschrift bestickt oder bemalt, präsentiert er die Namen des Kindes und seines Vaters sowie das Geburtsdatum des Knaben nach dem jüdischen Kalender. Es folgen ein Segenswunsch und der Satz: "Er wachse heran zur Tora, zur Chuppa (Hochzeit) und zu guten Werken". Dieses Band wurde gewöhnlich beim ersten Besuch der Eltern mit ihrem Kind in der Synagoge um die Tora gewickelt, als Realsymbol der Beziehung zwischen Kind und Gott bzw. seiner Tora. Neben ihrer künstlerischen Bedeutung sind die Ichenhausener Wimpel außerdem von großem historischem Wert, da die Mohelbücher, in welche die Beschneider Namen und Daten der Knaben eintrugen, verloren sind. Somit stellen die Wimpel das einzige Geburtsregister dar, das aus dem 17./18. Jh. erhalten ist. Wegen ihrer großen Bedeutung wurde ein Teil der Ichenhausener Tora-Wimpel bereits unter beträchtlichem Aufwand restauriert (Restauratorin: Claudia Entschladen). Einige besonders gut erhaltene und kunstvoll gestaltete Exemplare werden hier gezeigt. Zu sehen sind ein bemalter Tora-Wimpel (1784) und verschiedene bestickte Stücke, die aus dem Zeitraum von 1666-1784 stammen. Ein ganz besonderes Highlight stellt dabei ein Exemplar von 1706 dar, das von Experten aufgrund seiner kunstvollen Gestaltung als "Prachtwimpel" bezeichnet wird.

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