Zweite Revolution, 1919
Beschreibung
Als "Zweite Revolution" wird der Versuch der radikalen Linken bezeichnet, nach dem Wechsel des politischen Systems im November 1918 die gesellschaftlichen Verhältnisse in Richtung Sozialismus und Rätesystem zu verändern. Auslösendes Moment war in Bayern die Ermordung Kurt Eisners (1867-1919) und die Schießereien im neu eröffneten Landtag, die ein Machtvakuum hinterließen. Vor allem in München gewannen die bei der Landtagswahl gescheiterten radikalen Linken zunehmend an Einfluss. Im April 1919 mündete diese Entwicklung in den Münchner Räterepubliken, die weitere Schübe der Radikalisierung mit sich brachten ("Dritte" und "Vierte" Revolution).
Phasen der Revolution in Bayern 1918/19
Aufgrund der im gesamtdeutschen Vergleich besonderen Länge und Intensität des Revolutionsgeschehens in Bayern – vom 7. November 1918 bis zum 2. Mai 1919 – unterscheidet man mehrere Revolutionsphasen. Diese beziehen sich auf die zeitlich aufeinander folgenden Schübe politischer Radikalisierung bei gleichzeitiger Verengung auf den Raum.
Als "Erste Revolution" wird dabei die eigentliche Novemberrevolution mit dem Sturz >> (1845-1921, reg. 1912/13-1918) und die Bildung der bayernweit als legitime Staatsgewalt anerkannten Regierung Eisner verstanden. Das mit der Ermordung >> (1867-1919) und den kurz darauf folgenden Attentaten im bayerischen Landtag gewaltsame Ende der provisorischen Revolutionsregierung am 21. Februar 1919 wird als "Zweite Revolution" bezeichnet. Mit der "Dritten" und "Vierten" Revolution ist schließlich die Ausrufung der ersten und zweiten Münchner Räterepublik am 7. April bzw. 13. April 1919 gemeint.
Der Begriff "Zweite Revolution"
Die Ereignisse, bei denen am 21. Februar 1919 die erste Phase der bayerischen Revolution jäh beendet wurde, bezeichneten bereits die Zeitgenossen als "Zweite Revolution". Schon Wochen vorher war von einer solchen gesprochen worden. Kurt Eisner hatte dies im Ministerrat am 5. Dezember 1918 prophezeit, falls versucht werden sollte, mittels des Landtags gegen die Räte zu regieren. Am 20. Februar 1918 hatte er vor dem versammelten Kongress der bayerischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte erneut eine "Zweite Revolution" angekündigt. Wie er ausführte, sollte sie weder Plünderung noch Straßenkampf mit sich bringen, sondern vielmehr gewaltlos eine sozialistische Demokratie verwirklichen.
Als die "Zweite Revolution" durch die Attentate des 21. Februar schließlich ausgelöst wurde, verstand man unter dem Begriff vor allem den Übergang der Regierungsgewalt auf die Räte, welche die Regelung der politischen Verhältnisse kraft revolutionären Rechts für sich in Anspruch nahmen. Radikale linke Kräfte erwarteten sich von der "Zweiten Revolution" nach der Veränderung des politischen Systems im Zuge der Novemberrevolution nun den Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaftsform.
Bei regional äußerst unterschiedlicher Entwicklung war bis Mitte März 1919 der Versuch der Fortsetzung der Revolution in weiten Teilen Deutschlands bereits gescheitert. Eine Vorentscheidung hierfür war bereits mit der am 13. Januar 1919 endenden Niederschlagung des sog. Spartakusaufstandes in Berlin gefallen. Die Reichsregierung hatte damit mehr als deutlich gemacht, dass sie ein Fortschreiten der Revolution unter keinen Umständen tolerieren würde. Andernorts, wie etwa in Württemberg, konnte die Formierung radikaler linker Kräfte bereits im Vorfeld verhindert werden.
Die Attentate in München am 21. Februar 1919
Bei der Wahl zum Bayerischen Landtag am 12. Januar 1919 hatte die Partei des Ministerpräsidenten, die USPD, nur 2,5 % der Stimmen erhalten. Stärkste Partei war die konservative Bayerische Volkspartei (BVP) geworden, gefolgt von den Mehrheitssozialdemokraten, die bis zu den Ereignissen des 7. November 1918 eine Revolution abgelehnt und auf eine Reform des politischen Systems gesetzt hatten. Die Einsetzung einer parlamentarisch legitimierten Regierung und die Amtsniederlegung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner, welche die MSPD im Ministerrat am 12. Februar bzw. 20. Februar 1919 durchsetzen konnten, musste deshalb auch ein Ende der revolutionären Umwälzung der gesellschaftlichen und politischen Zustände bedeuten.
Die Eröffnung des Landtags in München am 21. Februar 1919 wurde von zwei Gewaltakten erschüttert. Auf dem Weg zum Landtagsgebäude wurde Kurt Eisner von dem 22-jährigen Leutnant und Studenten >> (1897-1945) ermordet. In der Tasche des noch amtierenden Ministerratsvorsitzenden befand sich seine Rücktrittserklärung. Als Reaktion auf diese Tat verübte ein Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats, >> (1887-nach 1943), einige Stunden später im Landtag ein Attentat auf Innenminister >> (1874-1945). Dieser überlebte zwar schwer verletzt, aber zwei weitere Personen, Major >> (1878-1919), Referent im Militärministerium, und der BVP-Abgeordnete >> (1863-1919), wurden tödlich getroffen. Danach verließen die übrigen Mitglieder des Parlaments fluchtartig das Gebäude.
Die provisorische Regierung war mit der Ermordung Eisners und den Schüssen auf Auer nicht mehr handlungsfähig, zumal zwei weitere Minister, >> (1878-1949) und >> (1866-1945), bald nach der zweiten Tat untergetaucht waren. Durch die Attentate war ein Machtvakuum entstanden, in das nun, wie >> (1889-1967) es formulierte, "ganz von selbst ohne irgendwelche Gewaltanwendung die Räte hinein glitten."
Bildung von Aktionsausschuss und Zentralrat
Noch am 21. Februar 1919 waren die Vollzugsräte Bayerns mit Vertretern der Mehrheitssozialdemokratie (MSPD), der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) und des Bayerischen Bauernbundes (BB) zusammengetreten und hatten einen Aktionsausschuss gebildet. Dieser wählte aus seiner Mitte einen Zentralrat, den sog. Elfmännerausschuss. Bei der Zusammensetzung wurde darauf geachtet, dass mit den neun Mitgliedern der Vollzugsräte und den beiden Vertreter des Revolutionären Arbeiterrates gleichzeitig eine weitgehend paritätische Vertretung der beiden sozialistischen Parteien und des Bauernbundes entstand. Vorsitzender des Zentralrats wurde Ernst Niekisch. Zudem wurde das Gremium am 22. Februar durch die Aufnahme eines Mehrheitssozialisten und eines Vertreters der Gewerkschaften erweitert.
Die bisherigen Minister für Finanzen, >> (1865-1921), für Verkehrsangelegenheiten, >> (1855-1921), sowie für soziale Fürsorge, >> (1890-1971), führten ihre Amtsgeschäfte bis zum erneuten Zusammentritt des Landtags am 17. März 1919 weiter. Die Leitung des Innenministeriums übernahm der Staatsrat >> (1863-1947). Bis zur Ermächtigung des Kabinetts Hoffmann I am 17. März 1919 lag die Regierungsgewalt aber beim Zentralrat.
Die "Zweite Revolution" in München
Dem Zentralrat gelang es nur mühsam, die Situation in der Landeshauptstadt unter Kontrolle zu halten. Bereits am 21. Februar war der Belagerungszustand über verhängt und Raub, Plünderung und Diebstahl unter Todesstrafe gestellt worden. Zudem wurde das Erscheinen sämtlicher Münchner Zeitungen mit Ausnahme der Parteiorgane der USPD und des Bauernbundes, der "Neuen Zeitung" beziehungsweise der "Neuen Freien Volkszeitung" verhindert, da der Presse ein bedeutender Anteil an der Ermordung Eisners vorgeworfen wurde. Ab dem 25. Februar konnten wieder alle bürgerlichen Blätter erscheinen, allerdings nur unter der Zensur der Räte, die bis zum 15. März andauern sollte.
Infolge verschiedener Aufrufe zum Generalstreik legten am 21. Februar 1919 viele Beschäftigte die Arbeit nieder und nahmen überall in der Stadt an Versammlungen teil, bei denen Rache für den ermordeten Ministerratsvorsitzenden gefordert wurde. In den Mittagsstunden der folgenden Tage wurden die Geistlichen zum Trauergeläut gezwungen. Um weiteren konterrevolutionären Attentaten vorzubeugen, beschloss der Zentralrat am Morgen des 22. Februar, Geiseln in Schutzhaft zu nehmen. Diese wurden weitgehend zufällig aus Kreisen des Münchner Bürgertums und der Offiziere ausgewählt und in das Hotel "Bayerischer Hof" gebracht.
Die "Zweite Revolution" außerhalb Münchens
Außerhalb Münchens kam es derweilen an einigen Orten zu Ausschreitungen. So demonstrierten in am 22. Februar die Soldaten der Infanteriekaserne und drangen in das Justizgebäude und in das Palais des Bischofs >> (1842-1930, reg. 1902-1930) ein. Im Zuge dessen kam es auch zu Plünderungen von Geschäften und nach Einbruch der Dunkelheit zu begrenzten bewaffneten Auseinandersetzungen. Dort und in und wurden der Belagerungszustand verhängt und die bürgerlichen Zeitungen am Erscheinen gehindert oder zumindest unter Vorzensur gestellt. Insgesamt konnte die Bayerische Staatszeitung am 28. Februar 1919 allerdings vermelden, dass "die zweite Revolution in der Provinz im großen und ganzen ohne besonders aufregende Zwischenfälle" verlaufen war.
Die "Zweite Revolution" zeigte außerhalb der großen Städte noch andere Folgen, die vor allem ein Ende der Resignation bedeuteten, in der sich die lokalen Räte seit den Landtagswahlen vom 12. Januar befunden hatten. So erhielten vielerorts kleinere sozialdemokratische Rätegremien, die bisher unter dem Druck traditioneller, bürgerlicher Führungsschichten gestanden hatten, neuen Aufschwung. Oftmals kam es zur Neuwahl bestehender Räte, die sich als inaktiv erwiesen und revolutionäre Forderungen nicht erfüllt hatten. In einigen Orten wurde denn auch die Aufforderung des Zentralrats, die lokalen Presseorgane zu zensieren, befolgt.
Andere Anordnungen dagegen stießen auf großen Widerstand konservativer Bevölkerungsteile. So war das geplante landesweite Glockenläuten zur Gedenkfeier Kurt Eisners am 26. Februar in zahlreichen Gemeinden von Bürgermeistern und Priestern verhindert oder erschwert worden. Wo bürgerliche und konservative Kräfte stark genug waren, behielten sie auch jetzt die Oberhand.
Uneinigkeit über die Zielsetzung
Zwischen den gemäßigten Mitgliedern des Zentralrats und den radikalen Münchner Räten bestand prinzipielle Uneinigkeit über die künftige Regierungsform in Bayern.
Am 22. Februar erarbeiteten Vertreter der Gewerkschaften, der MSPD und USPD sowie des neugeschaffenen Zentralrats einen Entwurf zur weiteren politischen Entwicklung Bayerns. Demnach sollten die Räte in der Verfassung verankert werden, in Ausübung ihres Amtes Immunität besitzen und künftig mit beratender Stimme an den Ministerratsitzungen teilnehmen. Ein rein sozialistisches Ministerium sollte die Regierungsgeschäfte auf der Grundlage des bestehenden Staatsgrundgesetzes vom 4. Januar 1919 bis zur Verabschiedung einer Verfassung durch die Volksvertretung führen. Darüber hinaus sollte auch der Landtag wieder einberufen werden, sobald es die Verhältnisse gestatten würden. Ferner sollten das bayerische Heer durch einen Ausbau der republikanischen Schutztruppe abgelöst und die allgemeine Pressefreiheit grundsätzlich wiederhergestellt werden.
Dieser Vorschlag stieß bei einer am selben Tag stattfindenden Versammlung der Münchner Räte im Deutschen Theater auf herbe Kritik, da die Einberufung des Landtages eine Absage an ein reines Rätesystem bedeutete. Stattdessen wurde auf der Münchner Räteversammlung die Ausrufung der Räterepublik einstimmig beschlossen.
Am 23. Februar wurde in der "Neuen Zeitung", dem Organ der USPD, knapp mitgeteilt, dass der Zentralrat die Einberufung eines Rätekongresses beschlossen habe, was auch von radikaler Seite befürwortet wurde. Die Haltung der gesamten bayerischen Räte zur Frage der künftigen Regierungsform Bayerns würde sich nun dort zeigen.
Folgen und Bewertung
Die "Zweite Revolution" verhinderte in Bayern den gewaltlosen Übergang von der provisorischen Revolutionsregierung in ein parlamentarisch-demokratisches System und beschleunigte letztlich eine weitere Radikalisierung der Münchner Arbeiterschaft. Obwohl sich auf dem folgenden bayerischen Rätekongress eine deutliche Mehrheit gegen die Einführung einer Räterepublik aussprach, nahm in der Landeshauptstadt die Unterstützung für die radikale Linke stetig zu. Während in der ersten Revolutionsphase MSPD, USPD und vereinzelte bürgerlich-liberale Kräfte bei weitgehender Kontinuität der bestehenden Staatsverwaltung zusammengearbeitet hatten, gewannen in München und Augsburg, aber auch in kleineren Städten vor allem im südbayerischen Raum, im Laufe des März 1919 radikale linke Kräfte die Oberhand. Die am 17./18. März 1919 vom Landtag eingesetzte Regierung Hoffmann war nicht in der Lage, eine Beruhigung der Verhältnisse herbeizuführen.
War ein verwerfungsfreier Übergang zu einem parlamentarisch-demokratischen Regierungssystem auch ohne die Attentate des 21. Februar fraglich gewesen, so beförderte die "Zweite Revolution" sicherlich bestehende Radikalisierungstendenzen. Eine Neuordnung der politischen Verhältnisse auf parlamentarischem Wege war, wie die Landtagswahlen vom 12. Januar 1919 und die Abstimmung im Rätekongress am 28. Februar 1919 zeigten, für die äußerste Linke aussichtslos. Der folgende Versuch, im Sinne des Klassenkampfes sozialrevolutionäre Vorstellungen, die auf einem Rätesystem fußten, durchzusetzen, endete schließlich mit der blutigen Niederschlagung der Kommunistischen Räterepublik Anfang Mai 1919.