Marienkapelle, Würzburg
Beschreibung
Anstelle der 1349 bei einem Pogrom zerstörten Würzburger Synagoge entstand wie auch in Nürnberg oder Regensburg wahrscheinlich noch im selben Jahr eine Marienkapelle. 1377 wurde der Grundstein der noch heute bestehenden Kirche gelegt (1479 vollendet). Die kunstgeschichtliche Bedeutung der Marienkapelle ergibt sich einerseits aus der Baugestalt, die in der Diözese Würzburg als Vorbild wirkte, andererseits aus der qualitätvollen Ausstattung u. a. mit Skulpturen von Tilman Riemenschneider (gest. 1521). Seit 1393 galt die Marienkapelle als "Ritterkapelle" der Gesellschaft mit dem Fürspang, doch wurde sie im 15. Jahrhundert schrittweise der städtischen Aufsicht unterstellt und galt fortan als Kapelle des Stadtrats. Die Marienkapelle erlebte nur geringfügige Barockisierung, wurde aber im 19. Jahrhundert im neugotischen Stil umgestaltet, 1945 wurde sie schwer beschädigt und in den Folgejahren im historischen Zustand wieder hergestellt.
Vorgänger des bestehenden Baues und Wallfahrt
Anstelle der Marienkapelle befand sich bis zum Pogrom von 1349 eine Synagoge. Bisher unpublizierte Grabungen sollen in unmittelbarer Nähe Reste einer Mikwe (Gebäude für ein rituelles Tauchbad) zutage gefördert haben. Nach >> (ca. 1490-1551) wurde nach 1349 anstelle der zerstörten Synagoge ein Holzbau als Marienkapelle errichtet, der sich Fries zufolge zur Wallfahrtskirche entwickelte (keine Abbildung überliefert). Ein Pilgerbetrieb ist jedoch ebenso wenig eindeutig nachweisbar wie ein Kultbild. Ein fehlendes Kultbild schließt aber eine Wallfahrt nicht aus; so könnte die Marienkapelle auch als Stationskirche für Marienwallfahrten im Umland gedient haben (Dünninger 1962). Unklar ist, ob die vermögensrechtliche Trennung der Marienkapelle von der Dompfarrei 1393 in Zusammenhang mit einer Wallfahrt und den daraus erwachsenden Spendeneinnahmen steht. 1421 ist nahe der Marienkapelle ein 1587 abgebrochenes "Seelhaus" bezeugt, das neben der Memoria auch der Versorgung von Pilgern gedient haben könnte.
Marienkapelle als "Sühnekirche"?
Der Konnex zwischen der Zerstörung der Synagoge und der Errichtung eines Sakralbaues mit Marienpatrozinium ist wohl eindeutig. Vergleichbare Beispiele sind die Frauenkirche in Nürnberg, die Neupfarrkirche in (Wallfahrt zur schönen Maria) oder die ehemalige Gruftkirche in . Die dahinter stehende theologische Vorstellung ist bisher jedoch nicht genau fassbar. Die vor allem im 19. Jahrhundert vertretene Theorie einer "Sühnekirche" lässt sich anhand zeitgenössischer Quellen nicht belegen und tritt in unterschiedlicher Ausprägung auf: Die Marienkirche als Sühne für die – angeblich >> und >> beleidigende - Anwesenheit von "Gottesmördern" (Borchardt 1988) oder die Marienkirche als "Wiedergutmachung" für die Tötung der wehrlosen Juden.
Macht man sich jedoch die seit dem 12. Jahrhundert zu beobachtende Verschmelzung der Personifizierung der Ecclesia als "sponsa Christi" (Braut Christi) mit der Marienverehrung bewusst, erscheint auch die Absicht einer Gegenüberstellung von Synagoge und Maria theologisch begründet. Maria verkörpert nach den zeitgenössischen christlichen Vorstellungen den Neuen Bund, der an die Stelle das Alten Bundes tritt. Der Bau eines Marienheiligtums anstelle einer Synagoge erscheint so als sinnfällige Bestätigung der christlichen Interpretation der Heilsgeschichte und nicht als "Sühne".
Baugeschichte
Den Grundstein zur heutigen Kirche legte 1377 Bischof >> (reg. 1359-1372 als Bischof von Naumburg, 1372-1400 Bischof von Würzburg). Dies ist inschriftlich überliefert. Obgleich die Inschrift am Langhaus angebracht ist (Südseite außen, 2. Strebepfeiler von Osten heute Kopie, das Original innen an der Westwand), bezieht sie sich auf den Gesamtbau mit Chor (anders Gerstenberg 1958). Bereits 1378 erfolgte eine Messstiftung, die sich jedoch auch auf einen (hölzernen) Vorgängerbau beziehen könnte und keinesfalls als Vollendungsdatum des Chores zu werten ist. 1407 ist der Kauf eines Steinbruchs durch die Kapellenpfleger bezeugt. Der Literatur zufolge (Schott 1964) fanden 1411/12 bereits Bestattungen in der Kapelle statt. 1441 muss der Innenraum weitgehend vollendet gewesen sein, da der aus dem Dom vertriebene Bischof >> (reg. 1440-1443) die Marienkapelle vorübergehend als Kathedralkirche benutzte.
1441 begann der Bau des Turmes durch den Frankfurter Baumeister Eberhard Friedeberger (gest. 1458) nach Vorbild der 1808 abgebrochenen Liebfrauenkirche in Mainz. Den erhaltenen Baurechnungen zufolge (Stadtarchiv ) wurde 1464/65 an den oberen Turmgeschossen gearbeitet und 1479 ein bleiernes Turmdach aufgebracht. Der Turm befindet sich als weitgehend eigenständiger Bau an der Nordwestecke und ist nicht in den Rhythmus der Langhaus-Travéen integriert. Offenbar war der Turm in der ursprünglichen Planung um 1377 nicht zwingend vorgesehen und ist erst infolge des Bedeutungswandels zur Rats- und Bürgerkirche als genuin städtisches Projekt entstanden.
Beschreibungen
Die Marienkapelle ist eine dreischiffige, fünfjochige Staffelhalle mit geringer Überhöhung des Mittelschiffes auf schlanken Achteckpfeilern. Der Ostchor in Mittelschiffbreite besteht aus drei Jochen, wobei das westliche breiter als die übrigen ist, und 5/8-Schluss. In Chor und Langhaus ruhen die Gewölberippen auf einfachen Runddiensten ohne Kapitell. Lediglich im Chorschluss finden sich Dienstbündel mit Laubkapitellen. Die Dienste gehen in den Seitenschiffen vom Boden auf, im Langhaus sind sie abgekragt, im Chorhals ursprünglich vom Boden aufgehend und nachträglich abgekragt. Chor und Seitenschiffe zeigen Kreuzrippen, das Mittelschiffgewölbe ist ein bemerkenswerter, früher Vertreter des Parallelrippengewölbes mit Knickrippen (wichtiger Vorläufer des Netzgewölbes).
Der Außenbau wird durch den Wechsel von hohen Lanzettfenstern und Strebepfeilern dominiert. Die drei Trichterportale sind zwischen die Strebepfeiler gespannt und der Wand vorgeblendet.
Marienkapelle als "Ritterkapelle"
1393 beanspruchte die ritterliche "Gesellschaft mit dem Fürspang" neben der "Oberen Pfarre" in und der Frauenkirche die Marienkapelle als einen Sitz des Ordens. Der Begriff "Fürspan(g)" bezeichnet eine Fiebel bzw. Mantelschließe und war auf den Mantel Mariens bezogen. Das Abzeichen der Adelseinung ist durch eine Darstellung auf dem Grabstein des Martin von Seinsheim (gest. 1434) in der Marienkapelle (Westwand links) überliefert. 1412 erfolgte die erste Vikarienstiftung des Ordens für die Würzburger Marienkapelle. Auf der Stadtansicht von Merian 1648 ist sie als "Ritter-Capelle" bezeichnet. Diese Benennung findet sich ebenso noch im 17. Jahrhundert in den Matrikeln des Würzburger Domes (Diözesanarchiv Würzburg, Matrikel Dom, 1620-55). Der Begriff "Ritterkapelle" ist heute nicht mehr gebräuchlich.
Marienkapelle als städtische Ratskapelle
1407 sind anlässlich des Kaufes eines Steinbruches erstmals Kapellenpfleger genannt. Ihre Aufgabe bestand darin, das Kirchenstiftungsvermögen zu verwalten. Wer die Pfleger bestellte, geht aus den Quellen jedoch nicht hervor.
1415 schwuren die beiden Kapellenpfleger, neben dem Bischof auch dem Rat der Stadt Rechenschaft zu geben. Die Bestallung des Werkmeisters Eberhard Friedeberger 1441 erfolgte allein durch den Stadtrat, und ab 1446 werden auch die beiden Kapellenpfleger nachweislich von diesem ernannt. Den Pflegern stand ein Schreiber zur Seite. Ab 1478 erhielten sie sogar eine jährliche Besoldung. 1452 legte der Stadtrat fest, für jedes verstorbene Ratsmitglied eine Messe in der Marienkapelle zu halten. Dabei besaß das Würzburger Rathaus, der sog. Grafeneckart, eine eigene Kapelle – SS. Felix und Adauctus -, deren Vikarie 1551 auf die Marienkapelle übertragen wurde. Spätestens Mitte des 16. Jahrhunderts beanspruchte der Stadtrat die Marienkapelle als repräsentative Ratskapelle. 1559 wehrte sich daher auch die Gesellschaft mit dem Fürspang vergeblich gegen die aufgekommene Gewohnheit, verstorbene Ratsmitglieder in der Marienkapelle zu bestatten. Bis in das 18. Jahrhundert hinein galt es offenbar als besondere Ehrung der Stadtgemeinde, in der Marienkapelle bestattet zu werden. Diese Ehre wurde auch dem Architekten >> (1687-1753) zuteil (Grabmal ist allerdings nicht genau lokalisierbar, eine Gedenktafel befindet sich in der Marienkapelle).
Spätere Veränderungen und Restaurierungen
Bereits 1527 wurde im Rat der Stadt Würzburg der schlechte Zustand des Gebäudes bemängelt. 1556-58 sind Bauarbeiten am Turm belegt. Ab 1616 entstand die Westempore im Innenraum (anders Schneider 1994). Anfang des 18. Jahrhunderts wurden die Dächer erneuert. Bei dieser Gelegenheit erhielt der Turm eine welsche Haube mit einer bekrönenden Marienfigur des Goldschmieds Martin Nötzel nach einer Vorlag von >> (1672-1760).
1843-1853 fand eine umfassende Restaurierung unter Leitung des Münchner Bildhauers >> (1807-1869) statt. Die beiden Figuren, die heute das Westportal außen flankieren, dürften von Halbig selbst stammen. Im Rahmen dieser Restaurierung wurde die Westfassade durch Einfügen einer Giebelrosette und einer Galerie über dem Westportal umgestaltet. Die obere, in Traufhöhe umlaufende Galerie gehört dagegen zum Ursprungsbestand. 1856-1857 leitete Zivilbauinspektor Friedrich Reuß den Bau des neugotischen Turmhelm nach einem Plan Halbigs (Würzburger Anzeiger 1857, Nr. 217); Vorbild war der Turmhelm der Esslinger Frauenkirche.
1945 wurde die Marienkapelle durch Luftangriffe schwer beschädigt und 1948-1961 unter Leitung von Eugen Altenhöfer wiederhergestellt. Dabei wurden Pfeiler und Gewölbe neu aufgemauert, teilweise mit altem Material. Das Gewölbe sicherte man durch eine Betonverschalung auf der Oberseite. Die Westempore wurde vollständig erneuert. 1996-2003 erfolgte eine Generalsanierung.
Bauplastik und Ausstattung
Aus der Erbauungszeit datieren mehrere zentrale Werke fränkischer Plastik. Das früheste ist ein Relief des Marientodes, die mit der Kapitellplastik der Dienste im Chor verwandt ist (Innen, südliches Seitenschiff, um 1400). Etwa gleichzeitig entstanden ein Kreuzigungsrelief und die teils figürlich, teils vegetabil gestalteten Konsolen an den Langhauspfeilern, die in der Tradition des Parler-Kreises stehen. Die Tympana der drei Portale, deren nördlicher einen seltenen Typus der Verkündigungsdarstellung zeigt (conceptio per aurem - Empfängnis durch das Ohr), stammen von einer Werkstatt, die offenbar auch die Schlusssteine im Chor (Evangelistensymbole) schuf und im frühen 15. Jahrhundert arbeitete. Ihr qualitätvolles Schaffen ist dem Schöpfer des Grabmals Bischofs Gerhard von Schwarzburg im Würzburger Dom zu vergleichen und ferner in (Tympana der Stadtpfarrkirche) und (Stiftskirche St. Peter und Alexander, Kreuzgang Grabstein der Gertrud von Breydenbach, gest. 1421) zu beobachten. Ebenfalls dem "Weichen Stil" verpflichtet, aber deutlich später ist die Trumeaumadonna (= Madonna am Portal-Mittelpfeiles) des Westportals (um 1440, traditionell Eberhard Friedeberger zugeschrieben; Kopie, Original innen an der Südwand).
Die Nischen der Strebepfeiler wurden im Auftrag des Würzburger Stadtrates ab den 1490er Jahren mit Apostelfiguren von >> (ca. 1460-1531) geschmückt, deren reliefhafte, die Breite betonende Auffassung auffällig mit den schlanken Nischen der hohen Strebepfeiler kontrastiert. Die mobile Ausstattung wurde im 19. Jahrhundert grundlegend im neugotischen Stile erneuert und ging 1945 zugrunde. Der jetzige Hochaltar aus dem frühen 16. Jahrhundert befand sich vorher im Neumünster in Würzburg, seine genaue Provenienz ist bisher nicht geklärt.
Bedeutende Grabmäler sind die für Ritter Konrad von Schaumburg (gest. 1499) von Tilman Riemenschneider, das Epitaph für Jörg Schrimpf (gest. 1556) von >> (gest. ca. 1575) sowie das Epitaph für Anna Külwein (gest. 1563).
Bedeutung
Die Bauplastik der Marienkapelle integriert östliche Strömungen (Prag, Nürnberg, Parler-Kreis) mit westlichen (Mainz, Frankfurt, Oberrhein). Als früher Vertreter der Staffelhalle fand ihre Bauform und Plastik in der Diözese Würzburg zahlreiche Nachfolge (u. a. , Weikersheim, Wertheim, Laudenbach in Württemberg). Ihre Baugestalt ist durch den Verzicht auf eine Barockisierung und den Erhalt 1945 weitgehend bewahrt. Begünstigend wirkt, dass die mittelalterliche städtebauliche Situation (Oberer und Unterer Markt in Osten und Süden, Häfnermarkt im Norden) bis heute keine einschneidende Veränderung erfuhr.