Niklashauser Fahrt, 1476

Beschreibung

Gewaltsam niedergeschlagene Massenwallfahrt nach Niklashausen im Taubertal (Gde. Werbach, Main-Tauber-Kreis, Baden-Württemberg). Im Zentrum der Wallfahrt stand Hans Böhm (geb. um 1450 in Helmstadt, Lkr. Würzburg). Böhm (auch Beham, Behem, Beheim, Böheim) löste 1476 die weit über die Region ausstrahlende Massenwallfahrt aus, indem er behauptete, die Jungfrau Maria sei ihm erschienen. Er predigte in ihrem Namen kirchen- und sozialkritisch. Am 12. (oder 13.) Juli 1476 ließ ihn Bischof Rudolf II. von Scherenberg (reg. 1466-1495) unter dem Vorwurf der Häresie gefangen nehmen. Ein Zug von rund 15.000 Wallfahrern, die Böhm befreien wollten, wurde blutig niedergeschlagen. Böhm starb am 19. Juli 1476 auf dem Scheiterhaufen. Volkstümliche Namen für den Hirten und Spielmann (auch: Pfeifer, Pauker, Trommler, Sänger) sind auch: Pfeifer von Niklashausen, Pauker von Niklashausen.

Historische Bedeutung

Die Niklashauser Fahrt wurde von der protestantischen Historiographie unter anderem als Teil der Vorgeschichte der Reformation gesehen. >> (um 1450-1476) wird etwa von >> (1796-1865) unter die "Reformatoren vor der Reformation" (1841/42) eingereiht. Nationale Historiker betonten die Rom-Feindlichkeit des Pfeifers und sahen darin Spuren eines erwachenden nationalen Bewusstseins. Die sozialistische Geschichtsschreibung wertete den Aufstand der Wallfahrer in der Nachfolge von >> (1820-1895) "Geschichte des deutschen Bauernkrieges" als Beginn und ersten Höhepunkt der frühbürgerlichen Revolution. 1476 - das Jahr der Wallfahrt - galt der Forschung in der DDR in den 1960er und 1970er Jahren als "Epochenjahr" für den Beginn der Neuzeit. Frömmigkeitsgeschichtlich reiht sich das "Lauffen" nach Niklashausen in andere vergleichbare Phänomene der Zeit ein, wie etwa die Massenwallfahrt nach Wilsnack (1475) oder die - freilich viel spätere - Wallfahrt zur Schönen Maria in (1519).

Quellenlage

Der Fall Hans Böhm ist aus einer Fülle von Quellen überliefert, doch nur wenigen kann man eine Nähe zu den Wallfahrern zuschreiben, da die Erinnerung an den Pfeifer von weltlicher und kirchlicher Obrigkeit systematisch und nachhaltig unterdrückt wurde. Als Quellen stehen Briefe, literarische Texte, Einträge in Chroniken, Urkunden, Akten und Zeugenprotokolle sowie die Spruchdichtung und deren Illustrationen zur Verfügung. Fast alle relevanten Quellen sind bei Arnold (1980) abgedruckt.

Rekonstruktion der Ereignisse

Der Beginn der Wallfahrt ist zwischen Fastenzeit und Mai 1476 festzusetzen. Bald griff das "Lauffen" bis nach Sachsen, an den Oberrhein und nach Süden in die bayerischen Herzogtümer aus. Ab Mai/Juni kamen an die 10.000 Menschen jedes Wochenende in den 200-Seelen-Ort Niklashausen, um die Predigten zu hören. Mitte Juli stieg die Pilgerzahl auf bis zu 40.000 pro Sonntag an. Von dieser Wallfahrt waren nicht nur die bäuerlichen Schichten erfasst: Einige Teilnehmer gehörten nachweislich dem niederen Adel an. Die Quellen berichten von Wundern: Es sei ein neuer Brunnen entstanden, Heilungen hätten sich zugetragen und sogar Erweckungen von Toten soll es gegeben haben. Unter den "Geheilten" waren allerdings offenbar auch Betrüger, die sich wegen der Spenden "heilen ließen" (Quelle: Vernehmungsprotokolle).

Die Logistik der Wallfahrerzüge verglichen Zeitgenossen mit der von militärischen Heerzügen. Diese ungesteuerten Menschenmassen, aber auch die Inhalte der Predigt, die angeblich auf die Jungfrau Maria zurückgingen, riefen die Obrigkeit auf den Plan. Der Würzburger Bischof >> (reg. 1466-1495) einigte sich mit dem für Niklashausen zuständigen Diözesanbischof, dem Mainzer Erzbischof >> (reg. 1459-1461/63 und 1475-1482), auf ein gemeinsames Vorgehen gegen den Pfeifer.

Wohl in der Nacht zum 12. Juli 1476 (einem Freitag, nach anderer Lesart auch am 13. Juli), wurde Böhm gefangen genommen und nach gebracht. Am Samstagabend brachen nach Schätzungen 12.000 bis 16.000 Anhänger des Pfeifers von Niklashausen nach Würzburg auf, um diesen zu befreien (Frauen und Kinder blieben wohl zurück).

Die Pilger waren wohl weitgehend unbewaffnet und führten die Insignien der Wallfahrt mit (Fahnen und große Kerzen). Vor der Stadt blieben die Pilger in der Defensive. Als immer mehr würzburgische Untertanen aus den Reihen der Revoltierenden ausscherten, löste sich der Protestzug langsam auf. Der Bischof ließ die abziehenden Pilger verfolgen. Im nahen Kirchhof von (Lkr. Würzburg) kam es zum Kampf mit einem verschanzten Pilgerhaufen. Dabei gab es unter den Aufständischen bis zu 40 Tote und viele Verwundete; 108 wurden gefangen genommen. Ein bischöflicher Reiter wurde verwundet.

Die Anklage gegen Hans Böhm lautete auf Häresie. Protokolle über den Prozess sind nicht erhalten. Nach späteren Berichten soll Böhm gestanden haben, alles sei Täuschung gewesen. Wahrscheinlicher ist, dass er alle Vorwürfe leugnete. Nach wenigen Tagen, am 19. Juli 1476, wurden zunächst zwei aufständische Pilger geköpft, danach wurde Hans Böhm verbrannt. Obwohl die Hütten für die Wallfahrer vernichtet wurden und die Kirche von Niklashausen verschlossen blieb, ging die fast überall in Süddeutschland verbotene Wallfahrt im Untergrund wohl weiter. Am 10. Oktober 1476 belegte der Mainzer Erzbischof die Kirche mit dem Interdikt und bedrohte Wallfahrer mit der Exkommunikation. Am 2. Januar 1477 verfügte der Bischof die Zerstörung des Gotteshauses (ob diese ausgeführt wurde, ist fraglich). 1518 wurde eine neue Kirche errichtet, an der eine lokale und kirchlich anerkannte Marienwallfahrt entstand.

Die Lehre des Pfeifers

Hauptquelle für Böhms Predigten ist ein Gedächtnisprotokoll, das im Auftrag der geistlichen Obrigkeit am Tag Mariae Heimsuchung verdeckt angefertigt wurde. Die ihm dabei zugeschriebenen Aussagen lassen sich in vier Kategorien zusammenfassen:

a) Aussagen über sich selbst

Maria sei ihm erschienenIm Taubertal sei ebensolche Gnade wie in Rom zu erlangen.Wer ins Taubertal komme, erhalte die vollkommene Gnade und fahre nach dem Tod sofort zum Himmel auf.Notfalls würde er Wallfahrer-Seelen an der Hand aus der Hölle führen.Er habe durch sein Geben eine Strafe Gottes abgewendet (Frost für Getreide).

Der Hinweis auf die Gnade im Taubertal stellt einen Verweis auf einen alten, bei der geistlichen Obrigkeit offenbar in Vergessenheit geratenen Ablassbrief für die Niklashausener Kirche dar (nachweisbar für 1354).

b) Aussagen über die Geistlichkeit

Maria habe ihm den Zorn Gottes gegen die Priesterschaft offenbart.Sie hätten viele Pfründen, sollten aber "nicht mehr haben, als von einem zum andern Mal".Sie würden bald erschlagen und müssten sich tarnen, damit man sie nicht erkenne.Sie seien Ketzer (nicht er).Sie scheiden unerlaubt die Ehe (was nur Gott könne).Sie seien schwerer zu bessern "als die Juden".

Antiklerikale Äußerungen und entsprechende Lieder von Wallfahrern und Böhm sind auch in anderen Quellen überliefert.

c) Theologische Aussagen

Die Mutter Gottes wolle in Niklashausen mehr verehrt werden als anderswo.Der Bann sei nichts.Die Ehe könne nur Gott lösen.

Die Protokollanten zogen außerdem den Schluss, Böhm halte nichts vom Fegefeuer.

d) Politisch-soziale Aussagen

Der Kaiser sei ein Bösewicht."Mit dem Papst ist es nichts".Papst und Kaiser würden unmittelbar nach dem Tode zum Himmel oder zur Hölle fahren, je nachdem, ob sie fromm oder böse waren.Der Kaiser gebe Zoll und Belastungen.Die Fürsten und Herren müssten noch für Tagelohn arbeiten.Wenn Fürsten und Herren auch nicht mehr besäßen als die gemeinen Leute, hätten alle genug und gleich viel.Jagd und Fischerei sollte für alle frei sein.

Weitere Quellen berichten, dass der Peifer ausdrücklich auch gegen Zehnt und Frondienste sowie gegen den Kleiderluxus predigte.

Inhaltliche Würdigung

In seiner sozialpolitischen Radikalität ist der Pfeifer in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts einzigartig. Viele Forderungen sind bei den Taboriten allerdings schon angedacht und wurden später im Bauernkrieg wieder aufgegriffen. Insgesamt kann man von hussitisch-waldensischen Ursprüngen dieser Lehren ausgehen, wenngleich beide Gruppen Wallfahrten abgelehnt hatten. Zeittypisch sind die innerkirchliche Kritik am Klerus sowie die sozialen bzw. wirtschaftlichen Forderungen. Als "Mentor" Böhms galten unter anderem der Ortspfarrer und ein Begarde.

Die Verantwortlichen: Zuständigkeit, Motivationen und Vorgehensweise

Im Fall Niklashausen überschneiden sich die Kompetenzen folgender drei Hauptakteure: des Grafen >> (1454-1497), des Mainzer Erzbischofs Diether von Isenburg und des Würzburger Bischofs Rudolf II. von Scherenberg. Der Graf von Wertheim war Grund- und Gerichtsherr über Niklashausen und hatte die niedere Gerichtsbarkeit über Böhms Geburtsort (Lkr. Würzburg), wodurch er dessen Leibherr war. Der Würzburger Bischof übte die geistliche Herrschaft über Böhms Geburtsort aus. Der Mainzer Erzbischof war der zuständige Diözesanbischof für Niklashausen. Die Herren hätten sich die beschlagnahmten Votivgaben als Beute geteilt, heißt es in mehreren Quellen. Der Graf von Wertheim hatte am gewaltsamen Vorgehen keinen Anteil, verhinderte es aber auch nicht.

Die Frage der juristischen Zuständigkeit gehört zu den Streitpunkten der Forschung. Zunächst übergab zwar der eigentlich zuständige Mainzer Erzbischof im Juni 1476 die Angelegenheit in die Hände des Würzburger Bischofs mit der Begründung, dass Beheims Geburtsort in der Diözese Würzburg liege. Wahrscheinlich hat Diether von Isenburg das Heft des Handelns aus der Hand gegeben, weil er in den betreffenden Monaten mit Aufständen der Bürger in Mainz beschäftigt war. Anlässlich einer Tagfahrt beschlossen die Mainzer und Würzburger Räte in Ende Juni ein gemeinsames Vorgehen. Auf dieser Tagfahrt wurden Maßnahmen gegen Böhm beschlossen, die insgesamt ein recht eindrucksvolles Beispiel der Möglichkeiten zeigen, die zur Unterdrückung von Bewegungen vergleichbarer Art zur Verfügung standen:

Gefangennahme und Verhör des Paukers durch Amtsleute der beiden Bischöfe in AschaffenburgVerbot der LehreKontaktverbot (Bannandrohung) mit Böhm, falls man ihn nicht fassen könneMessverbot in NiklashausenAussendung von Zeugen, welche die Lehre Böhms anhören solltenBeschlagnahme der Einnahmen durch die WallfahrtGefangennahme der MittäterPropagandaverbot

Der Würzburger Bischof setzte sich über das vereinbarte Vorgehen hinweg, indem er Böhm - nachdem die Zeugen dessen Aussagen protokolliert hatten - nach Würzburg statt nach Aschaffenburg führen ließ. Botenverkehr zwischen den Bischöfen lässt allerdings darauf schließen, dass die Änderungen im Vorgehen abgestimmt waren.

Rezeptionsgeschichte

Trotz der Verbote und der Zensur gerieten die Ereignisse von Niklashausen nie in Vergessenheit, was etwa auch die Erwähnung in der Schedelschen Weltchronik (mit Abbildung) zeigt. Um diese Erinnerung zu überdecken wurde später in Niklashausen eine reguläre Marienwallfahrt errichtet. Die Ambivalenz und zugleich hohe Bedeutung, die sich in der Bewertung durch die Historiographie ergab, führte im 19. und 20. Jahrhundert zu einer ebenso reichen wissenschaftlichen, populärwissenschaftlichen wie belletristischen Verarbeitung der Ereignisse in Sach- und Jugendbüchern, Romanen, TV-Dokumentationen und Spielfilmen. Hervorzuheben ist der Film "Die Niklashauser Fahrt" unter der Regie von >> (1945/46-1982) (TV-Produktion von 1970, wieder veröffentlicht auf DVD 2005). In seinem Geburtsort Helmstadt steht seit 2007 ein Denkmal für den Pfeifer von Niklashausen. In Würzburg erinnert eine Gedenksäule auf dem Schottenanger an die Ereignisse.

Bayerische Staatsbibliothek