Autorenporträt zu Werner Fritsch

Beschreibung

Werner Fritsch, Jahrgang 1960, ist zwar gebürtiger Oberpfälzer, aber er ist noch viel mehr, er ist „Stiftländer“. Geboren in der Klosterstadt Waldsassen, dessen beeindruckende Klosterkirche mit angrenzender Klosterbibliothek (Holzfiguren von Carl Stilp) schon Alexander von Humboldt, Goethe, Nietzsche und Heimito von Doderer besucht haben, wächst Werner Fritsch auf dem nahegelegenen Einöd-Bauernhof Hendlmühl unweit des Flusses und der Ortschaft Wondreb auf, in dessen Friedhofskapelle sich ein barockes Kunstkleinod befindet: der Wondreber Totentanz in 28 barocken Bildern nach Texten von >> . Die geographische und sprachliche Mythologie des Stiftlands (Johann Andreas Schmeller stammt aus Tirschenreuth, Franz Xaver Schönwerth sammelt dort seine Märchen und Sagen von zwergenhaften Schrazeln und geheimnisvollen Waldmädchen), im Osten von 1945-1989 durch den „Eisernen Vorhang“ getrennt, all dies wird für den späteren Sprachartisten und Dramatiker eine unerschöpfliche Quelle. Dazu kommt in der Bevölkerung das Vertuschen der Schrecken des sogenannten „Dritten Reiches“ durch die umliegenden Außenlager des KZ Flossenbürgs. Makaber wird es auf dem Fritsch-Hof, als Allerseelen 1945 zwei ehemalige KZ-Häftlinge, die sich nach der „Befreiung“ auf Einbrüche auf Einödhöfe spezialisiert haben, Werner Fritschs Großeltern – vor den Augen seines Vaters – erschießen.

Werner Fritsch besucht diverse kirchliche Schulen an verschiedenen Orten (u.a. das Internat Heiligenbrunn der Mallersdorfer Schwestern) bis er am Weidener Kepler-Gymnasium auf den Deutsch- und Geschichtslehrer >> trifft, der bereits ein namhafter Schriftsteller (Rummelmusik) und Akzente-Autor ist. Behnisch, ein begnadeter Pädagoge und Humanist, ermuntert seinen Schüler, einmal seine Texte an >> zu senden. Der surrealistische niederbayerische Sprachartist (Der Depp, Das Andechser Gefühl) findet die Texte des Jung-Autors „überraschend stark“. Herbert Achternbusch und dessen Filme werden unweigerlich Thema von Werner Fritschs Abitur-Facharbeit (1980). Der Literaturkritiker Jörg Drews nimmt diesen ersten Fritsch-Text in seinen Materialienband zu Achternbusch auf.

Auch nach dem Abitur hält sich Werner Fritsch in Weiden auf. In der alternativen Weidener „Altstadtgalerie“ kommt es 1983 u.a. zu seiner Aktion Zeichen & Wunden mit Autoren-Auftritten und einer spontanen Verleihung eines „Weidener Kulturpreis[es]“. Im Herbst 1984 findet dann – wiederum initiiert von Werner Fritsch – die Veranstaltungsreihe „Trauer-Weiden im Herbst“ statt. Auch hier liest Werner Fritsch schon aus seinem späteren Cherubim. Der Schriftsteller >> und der Literaturkritiker Lutz Hagestedt kommen ebenfalls zu diesen „Weidener Kulturtagen“.

Als 1987 Werner Fritschs erste wirkliche Buchveröffentlichung, der ungewöhnliche, archaische Roman Cherubim erscheint, rotiert die deutsche Literaturkritik ob der individuellen Sprachgewalt und des voluminösen Stoffes. In zweihundertdrei Geschichten, die Werner Fritsch gesammelt hat, lässt sich lesen, wie einer, der an die Ewigkeit glaubt und daran, dass er dereinst „unter Cherubim“ sein wird, „sein“ und „unser“ Jahrhundert erfahren hat. Das Lumpenproletariat in der kleinen Porzellanstadt Waldsassen, die Arbeit auf Bauernhöfen, das Hochkommen eines Mannes, mit dem „Wenzel“ sich urverwandt glaubt und der für ihn noch heute „der Hiltler“ heißt, der Neubeginn nach dem Krieg, der Siegeszug der Technik, das langsame Älterwerden. Fazit: „Zu Lebzeiten bereits gewesen. In der Gewalt von der Ewigkeit.“

Mit dem BR-Kameramann Gerhard Steinbeck (Jahrgang 1947, Etzenricht) dreht Werner Fritsch die Adaption seines erfolgreichen Romans Cherubim: Das sind die Gewitter in der Natur. Die „Welturaufführung“ (Werner Fritsch) findet am 8. Dezember 1988 im „Ring-Kino“ in Weiden statt. Hauptfigur Knecht Wenzel (1905-1991) will nicht „in die Weiden. Nein! Dort gibt es so einen Haufen Leut, die laufen mich über den Haufen“. Werner Fritschs erster Film ist ein Dokumentarfilm über und mit dem wirklichen Wenzel. Beim Schlussapplaus in Weiden steht der gehbehinderte Wenzel kerzengerade im Blitzlichtgewitter der Lokalpresse, die Tränen laufen ihm übers zerfurchte, witterungsgegerbte Gesicht und er flüstert Werner Fritsch zu: „Wir kommen ins Heilige hinein noch auch.“

Werner Fritschs Cherubim ist ein eigenwilliges, faszinierendes Buch in einer merkwürdigen Oberpfälzer Kunst-Sprache, das vom Leser schon eine Intensität beim Lesen erfordert. Für Werner Fritsch ist diese Kunstsprache, die sich (fast) durch sein gesamtes Werk zieht, Ausdruck einer kulturellen Identität und kulturelles Gedächtnis einer Region. Mit dem Robert-Walser-Preis (1987) und dem Preis des Landes Kärnten (im Rahmen des 11. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs) beginnt für Werner Fritsch ein Literaturpreis-Regen, der heute noch anhält.

Grabstein des Knechts Wenzel Heindl (1905-1991) am Friedhof zu Tirschenreuth an Allerseelen vom 2. November 2016. Die Worte „Wir kommen ins Heilige hinein noch auch“ teilte er Werner Fritsch am 8. Dezember 1988 bei der Weidener Uraufführung des Films Das sind die Gewitter in der Natur mit. Foto: Werner Fritsch

Werner Fritsch ist auch Soldat der Bundeswehr. Den Grundwehrdienst absolviert er in Bayreuth. Seine Eindrücke drückt der Sprengmeister in seiner Erzählung Steinbruch (1989) aus – dramatisch weitergeführt in seinem realistisch beeindruckenden Theaterstück Fleischwolf (1992). Ort der Handlung ist die „Nachtbar NATIONAL“ – „In der Nähe eines Truppenübungsplatzes am Goldenen Vorhang“. Der Metzger-Monolog Jenseits (2000) heißt die radikale und raue Prosa, die der Autor Werner Fritsch selbst „ein WEIDEN-Buch“ nennt. Angedeutete Figuren seines Theaterstücks Fleischwolf treten in der Bar NATIONAL auf. Der Zuhälter „Klostermeyer“ steht hier synonym für den ermordeten (realen) Nachtklub-Besitzer Walter Klankermeier. Bekannte Gestalten aus Wiesau, Grafenwöhr und dem KZ Flossenbürg agieren. „Kunstmaler Kopf“ malt „die Josefskirch“ für „eine Welt von eingebildeten Kühen in Weiden“.

Im Jahr 2000 erscheint wiederum ein (fast) klassisch anmutender Oberpfälzer Stoff, das Lustspiel Die lustigen Weiber von Wiesau, ein Auftragswerk für das Deutsche Theater in Berlin. Dort wird es am 30. Januar 2000 unter der Regie von Thomas Langhoff uraufgeführt. Werner Fritschs Lustige Weiber stammen aus Wiesau, also wieder einem Ort aus seiner näheren Oberpfälzer Heimat. Handlungsort ist also Deutschland, wo gerade der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen ist. Die Biographien dieser Ururenkelinnen der „Ford“ und „Page“ aus Shakespeares Die lustigen Weiber von Windsor sind hier exemplarisch für eine Zeit der Neuorientierung, für die Etablierung einer sich wieder formierenden Gesellschaft.

Werner Fritsch, der wechselweise in Berlin und auf der Oberpfälzer Hendelmühl (Landkreis Tirschenreuth) wohnt, ist zweifelsohne ein begnadeter „Grenzgänger zwischen den literarischen Genres und den technischen Medien“ (Die Zeit). In den letzten Jahren hat er seine literarische Produktion „im Resonanzraum der Stimmen und Klänge“ (Klaus Dermutz) – mit Hörspielen (Enigma Emmy Göring, zuletzt Bach), Hörbüchern und Filmen (Chroma Faust Passion, Ich wie ein Vogel) – ausgeweitet. Der fünfzigjährige erfolgreiche Suhrkamp-Schriftsteller und Dramatiker (Nico. Sphinx aus Eis, Chroma. Farbenlehre für Chamäleons) hat das seltene Glück, mit Frauen wie Corinna Harfouch, Käthe Reichel, Irm Hermann oder Jennifer Minetti zusammenzuarbeiten. Auch der Lehrtätigkeit hat Werner Fritsch sich gewidmet, so ist er mehrere Semester lang Gastprofessor für Dramatik/Neue Medien am Leipziger Literaturinstitut.

2010 erhält er ein Stipendium der Villa Massimo/Casa Baldi. 2012/13 ist Werner Fritsch Stipendiat des Djerassi Resident Artist Program in Woodside/Kalifornien (USA). Für den ersten Teil seines vom Deutschlandfunk produzierten Filmgedichts Faust. Sonnengesang (2012, TV-Fassung 2011) erhält er 2013 den internationalen Radiopreis „Prix Marulic“ des Kroatischen Rundfunks (HRT) sowie den neugeschaffenen „Prix Grand Nova“ des Rumänischen Rundfunks. 2014 wird er mit der Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung ausgezeichnet.

2015 kommt das – zusammen mit dem 1980 in Weimar geborenen und in Coburg lebenden Lyriker Christian Rosenau verliehene – Stifter-Stipendium Oberplan des Adalbert-Stifter-Vereins hinzu. Die beiden Autoren können einen Monat im Geburtsort von Adalbert Stifter in Oberplan/Horni Plana (Südböhmen) wohnen und schreiben. 2016 wird Fritsch Magdeburger Stadtschreiber, zudem erhält er in Amberg den Kulturpreis der Bayernwerk AG.

So wie Samuel Becketts Ruhm vor allem auf seinem erfolgreichen Godot (1952) beruht, so steht auch für das Werk Werner Fritschs sein Cherubim (1987) als absurd klingende Geschichte seines Knechts Wenzel. Sein literarischer Wondreber Kosmos könnte durchaus auf Lukas 12, 49 basieren: „Ich bin kommen, dass ich ein Feuer anzünde auf Erden.“

Nach Cherubim (2012) und  >> jetzt (2013) kommt es in dem bereits 1993 uraufgeführten Stück Es gibt keine Sünde im Süden des Herzens (2015) bei den Luisenburg-Festspielen in Wunsiedel zu einem Wiedersehen mit der leitmotivischen Figur Wenzel. Die Umarbeitung des Hörspiels Enigma Emmy Göring als dramatischer Monolog wird bereits am 5. Juni 2013 am Theater Regensburg in Szene gesetzt.

2016 erscheint in der Suhrkamp-Reihe Spectaculum sein Stücke-Band Nofretete. Das Rad des Glücks. Mutter Sprache. Seine Nofretete, so Werner Fritsch, „soll zwischen den Zeiten pendeln, aus der Gegenwart zurück in die Vergangenheit, die immer mehr zur Metapher der Gegenwart wird.“ Das Auftragswerk Shakespeares Schädel in Fausts Faust hat am 18. November 2016 im Regensburger Stadttheater Uraufführung. Am 1. Juni 2018 wird Fritschs Monolog-Drama MUTTER SPRACHE mit Monika Manz im Münchner Theater Blaue Maus (Regie: Gerd Lohmeyer) uraufgeführt.

Werner Fritsch ist Mitglied des P.E.N.-Clubs Deutschland und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er ist verheiratet mit der Lyrikerin, Hörspielautorin und Übersetzerin Uta Ackermann (*1964 in Dresden).

Bayerische Staatsbibliothek