Gregorovius, Ferdinand (Artikel aus Neue Deutsche Biographie)
Beschreibung
Gregorovius wohnte in den ersten 11 Jahren seines Lebens in Neidenburg und 1832-38 in Gumbinnen, wo er das Gymnasium besuchte. Danach begann er mit dem Studium der Theologie und Philosophie in Königsberg, wo er auch 1841 sein 1. theologisches Examen ablegte. Als er nach zweimaligem Besteigen der Kanzel seine Nichteignung für diesen Beruf erkannt hatte, setzte er seine philosophischen Studien an der Albertina fort. K. Rosenkranz gab ihm das Thema für eine Dissertation (Plotini de pulcro doctrina, Dissertation Königsberg 1843; deutsch unter dem Titel „Grundlinien einer Ästhetik des Plotin“, erschienen in der „ Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik“, 1855). Nachdem Gregorovius einige Jahre als Hauslehrer in der Provinz zugebracht hatte, kehrte er 1845 nach Königsberg zurück und war hier bis 1852 an einer Privatschule tätig. Gleichzeitig war er von 1848-52 Redakteur der „Neuen Königsberger Zeitung“ und Mitarbeiter der „Hartungschen Zeitung“, für die er viele Artikel verfaßt hat. Trotz dieser doppelten Belastung und der politisch unruhigen Zeit beschäftigte er sich mit wissenschaftlichen Fragen und veröffentlichte kurz hintereinander 3 Bücher. In dem ersten („Die Idee des Polenthum's. Zwei Bücher polnischer Leidensgeschichte“, 1848) setzte er sich für die unterdrückte polnische Nation ein, woran er auch in späteren Jahren immer festgehalten hat. Die Untersuchung „Göthe's Wilhelm Meister in seinen socialistischen Elementen entwickelt“ (1849, ²1855) ist „mit gründlichster Sachkenntniß“ geschrieben, wie sich der Literarhistoriker H. Hettner in einer besonderen Studie äußerte (s. dessen Kleine Schriften, 1884). Die „Geschichte des römischen Kaisers Hadrian und seiner Zeit“ (1851, 2/31884, neugeschrieben; englische und französische Übersetzung) schrieb Gregorovius „nicht als ein Geschichtschreiber von Fach, sondern als ein Freund der Geschichte und des Altertums“ (Vorwort). Dieses Buch wurde für ihn „der Wegweiser nach Rom“. Am 19.4.1852 setzte Gregorovius seinen Fuß in Venedig zuerst auf italienischen Boden. Bald darauf wanderte er fast 3 Monate durch Korsika und fuhr endlich am 2.10.1852 in Rom ein, wo er den Winter zur Ausarbeitung seines „Corsica“-Buches (2 Bände, 1854, ²1869, ³1878; ins Englische, Französische und Italienische übersetzt) benutzte. Es war die erste Arbeit, die er „der großen Natur und dem Leben selbst“ abgewonnen hatte und mit der er eine neue literarische Gattung, die historische Landschaftsschilderung (J. Nadler), begründete. In seinen „Wanderjahren in Italien“ (5 Bände, 1856–77; mehrfach aufgelegt; ins Italienische und Französische übersetzt) hat er diese Literaturgattung gepflegt und Meisterleistungen darin hervorgebracht. Hier in Rom faßte er 1854, „ergriffen vom Anblick der Stadt, wie sich dieselbe von der Inselbrücke San Bartolomeo darstellt“, den Gedanken, eine „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (8 Bände, 1859–72, ⁴1886-96, ⁵1903 nur Band I und II; ins Englische, Italienische und Russische übersetzt) zu schreiben. Doch wollte er nicht nur die Stadtgeschichte, sondern auch die Geschichte des Papsttums und des Kaisertums darstellen. Daraus ergab sich, daß er seinen Standort jenseits aller nationalen Engstirnigkeit wählte und ihm Rom so gleichsam zum Spiegel der Geschichte des Abendlandes wurde. Dieses Meisterwerk der Geschichtsschreibung, welches auf zahlreichen Quellenstudien in römischen und italienischen Archiven und Bibliotheken beruht, läßt nichts mehr von jenem Ringen mit dem gewaltigen Stoff ahnen, der für Gregorovius zu einem Kampf mit dem „Dämon“ Roms geworden war. Viele Jahre hat er die „zaubervolle Stille“ des päpstlichen Rom genossen, ohne die er sein Werk nicht hätte beenden können. Er lehnte deshalb auch die Aufforderungen des Großherzogs Carl Alexander, nach Weimar, und des Königs Max, nach München an die Universität zu kommen, ab; er wollte seine „Unabhängigkeit“ behalten. Rom war ihm zur Heimat geworden. Hier fand er seine Freunde, zu denen unter anderem der preußische Gesandte Hermann Freiherr von Thile, die Ärzte Clemens August Alertz und Dr. Erhardt, der Bildhauer Eduard Mayer, der Maler Karl Lindemann-Frommel und die Archäologin Gräfin Ersilia Caetani Lovatelli gehörten. Wie 1859, als er bei der Schillerfeier in Rom ein Festgedicht vortrug, so wurde er auch 1871 dazu ausersehen, die Festrede vor den versammelten Deutschen anläßlich der Beendigung des deutsch- französischen Krieges zu halten. Aber nicht nur bei den Deutschen, sondern auch bei den Italienern genoß er hohes Ansehen. Seiner umfassenden Archivkenntnisse wegen wurde er im März 1872 durch den italienischen Unterrichtsminister aufgefordert, sich an dem Entwurf zu Plänen für die Neugestaltung der Archive in und um Rom zu beteiligen, und im gleichen Jahr beschloß der römische Stadtrat, die italienische Ausgabe der „Geschichte der Stadt Rom“ auf städtische Kosten drucken zu lassen. In seinem letzten in Rom entstandenen und wohl am meisten gelesenen Buch beschäftigte sich Gregorovius mit „Lucrezia Borgia“ (Nach Urkunden und Korrespondenzen ihrer eigenen Zeit, 2 Bände, 1874 und öfters; ins Italienische, Französische, Englische und Ungarische übersetzt), über die er sich einmal klar werden wollte, „soweit dies möglich ist“. Er hatte eine ganze Reihe bisher unbekannter Briefe und Dokumente in den Archiven entdeckt, die es ihm erlaubten, „ein schonendes Urteil“ über diese zwielichtige Gestalt auszusprechen. Nachdem er diese Arbeiten abgeschlossen hatte, siedelte er 1874 nach München über, von wo er zu Anfang jedes Jahres für längere Zeit nach Rom zurückkehrte. Im Frühjahr 1880 und auch 1882 unternahm er Reisen nach Griechenland und dem Orient, die unter anderem auch seinem letzten, mit Spannung erwarteten Werk, der „Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter“ (2 Bände, 1-31889, 1903 ins Griechische übersetzt), dienen sollten. Für dieses Alterswerk hatte er jahrelange Forschungen in den Archiven Venedigs, Neapels und Palermos angestellt und schließlich den äußerst spröden Stoff künstlerisch gestaltet. Zweifelsohne ist der wissenschaftliche Ertrag dieser beiden Bände noch gewichtiger als der der „Geschichte der Stadt Rom“. Für die Bayerische Akademie der Wissenschaften schrieb er im Laufe der Jahre einige Untersuchungen, deren bedeutendste und kritisch beste unter dem Titel „Urban VIII. im Widerspruch zu Spanien und dem Kaiser. Eine Episode des 30jährigen Krieges“, 1879 in deutscher und italienischer Sprache zugleich erschien. Sie gehörte zu den Vorstudien einer von Gregorovius geplanten, aber nicht ausgeführten „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“. Am 15.11.1890 hielt er in der Akademie eine Festrede über „Die großen Monarchien oder die Weltreiche in der Geschichte“ (Kleine Schriften zur Geschichte und Cultur III, 1892; Band I/II, 1887/88), die im Grunde eine Weltgeschichte in kürzester Fassung darstellt. Sie hinterließ bei den Mitgliedern der Akademie „durch monumentale Auffassung, epigrammatische Kürze, lapidare Sprache tiefen Eindruck“ (Simonsfeld). Gregorovius verband in seinen Geschichtswerken umfassende Quellenkenntnis mit künstlerischer Darstellung. Ganz vom „Humanitäts-Ideal“ durchdrungen, erkannte er in ihm auch den Maßstab, nach dem er die geschichtlichen Personen und Ereignisse beurteilte. Er glaubte an „Ideen“, die „die Welt beherrschen“, und an die „fortschreitende Bewegung der Geschichte“, so daß „die Menschheit immer größerer Vervollkommnung entgegengeführt wird“. Neben Hegels Einfluß ist auch der Schillers deutlich zu spüren, denn auch für Gregorovius war die Geschichte ein „unbestechliches Tribunal“. Dem übersteigerten Nationalismus jener Zeit trat er in seiner letzten Akademierede mit eindeutigen Worten entgegen: „Keine einzelne Nation kann mehr weder die politische Hegemonie, noch die Monarchie der Wissenschaft für sich allein beanspruchen“. Und für die Zukunft prophezeite er den Zusammenschluß der europäischen Staaten, weil sich das Abendland vor „dem Druck des slavischen Despotenreichs“ seiner Ansicht nach nur durch „die vereinigte Kraft seiner Nationalstaaten“ retten könne. Rom sollte die „Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Europa“ werden. Die Wirkung seiner Schriften im 19. Jahrhundert und darüber hinaus war groß und nachhaltig. Erst spät aber erfolgte die verdiente Anerkennung durch die deutsche Geschichtswissenschaft.
Autor
Kampf, Waldemar