Schieder, Theodor (Artikel aus Neue Deutsche Biographie)
Beschreibung
Schieder studierte nach der Gymnasialzeit am evangelischen Sankt Anna-Gymnasium in Augsburg seit 1926 in München und Berlin Geschichte, Germanistik und Geographie. Schon früh engagierte er sich als Mitglied der „ Deutschakademischen Gildenschaft“ in der bündischen Jugend, deren Kritik an Weimar und Versailler Vertrag er ebenso teilte wie deren Vorstellung, Deutschland müsse sich politisch und gesellschaftlich im Geist der Volksgemeinschaft erneuern. Nach seiner Münchener Promotion 1933 über „Die kleindeutsche Partei in Bayern in den Kämpfen um die nationale Einheit 1863-1871“ (1936) bei Karl Alexander von Müller (1882–1964) suchte Schieder Kontakt zu Hans Rothfels (1891–1976) in Königsberg, der aus den gleichen Vorstellungen heraus für eine territoriale und gesellschaftliche Neuordnung Ostmitteleuropas eintrat. Obwohl Rothfels gegen den ausdrücklichen Protest auch seiner nationalsozialistischen Studenten aufgrund seiner jüdischen Herkunft 1934 aus seinem Königsberger Lehramt entlassen wurde, wirkte der Kreis um ihn, zu dem unter anderem Werner Conze (1910–86) und Rudolf Craemer (1903–41) zählten und dem sich Schieder anschloß, in seinem Geiste weiter. Im April 1935 wurde Schieder mit dem Aufbau und der Leitung einer vom Preußischen Geheimen Staatsarchiv (Berlin) betreuten „Landesstelle Ostpreußen für Nachkriegsgeschichte“ mit Sitz in Königsberg betraut. In dieser Funktion, die er, seit 1937 Mitglied der NSDAP, bis1940 wahrnahm, beschäftigten er und seine Mitarbeiter sich insbesondere mit Fragen des „Grenzlanddeutschtums“, seiner Zusammensetzung und seinen geographischen Schwerpunkten sowie den ethnischen Auseinandersetzungen in diesem Raum, vor allem in Posen, in Ost- und Westpreußen und im Baltikum im 20. Jahrhundert Hieraus entstand, zeitlich weit zurückgreifend, seine Habilitationsschrift ( Deutscher Geist und ständische Freiheit im Weichselland, Politische Ideen und politisches Schrifttum in Westpreußen von der Lubliner Union bis zu den polnischen Teilungen [1569-1772/73], 1940), die er 1939 der Philosophischen Fakultät der Universität Königsberg einreichte. In diesem Zusammenhang ist auch seine Mitwirkung an der Erörterung aktueller Fragen der Grenzziehung und der damit ins Auge gefaßten territorialen Neuordnung Ostmitteleuropas zu sehen, die in dem Entwurf einer – erst Anfang der 1990er Jahre bekannt gewordenen – Denkschrift vom 7.10.1939 gipfelte. Hierin befürwortete Schieder nicht nur eine weitgehenden Germanisierung gemischtnationaler Gebiete, die wieder an das Deutsche Reich kommen sollten, sondern auch eine „Entjudung Restpolens“, des späteren Generalgouvernements. Im Sommer 1942 wurde Schieder als Nachfolger Kurt von Raumers (1900–82) auf den ehemaligen Lehrstuhl von Hans Rothfels berufen und bereits ein Jahr später zum Dekan gewählt. Anfang 1948 an die Universität zu Köln berufen (1952-54 Dekan, 1962-64 Rektor), nahm Schieder seine Verstrickungen in das Nationalsozialismus-System als Anstoß zu einem tiefgreifenden Umdenkungsprozeß, der zugleich die Grundlage bildete für sein weiteres wissenschaftliches Werk und eine erfolgreiche zweite Karriere. Der Nationalstaat und der Nationalismus, auch die nationalen Konflikte bis hin zu den Vertreibungen des 20. Jahrhunderts blieben sein Thema, das er nun auf europäischer Ebene behandelte. Hinzu traten methodische Fragen und grundsätzliche Überlegungen zu den zentralen Gegenständen der historischen Erkenntnis und des historischen Prozesses. Das Typische und der Typus beschäftigten ihn jetzt im Anschluß an Max Weber (1864–1920) und Otto Hintze (1861–1940), die er für die deutsche Geschichtswissenschaft entdeckte, und damit zugleich das Verhältnis zwischen historisch-genetischer und generalisierend-typisierender Betrachtungsweise. Zwar beharrte er mit Jacob Burckhardt (1818–97), der für ihn nach 1945 zu einer geistigen und moralischen Leitfigur wurde, auf dem Grundsatz, Gegenstand, „Ausgangspunkt“ und „Zentrum“ aller geschichtlichen Erkenntnis sei der „duldende, strebende und handelnde Mensch“. Aber er sah sie bestimmt von übergreifenden Zusammenhängen, deren Identifizierung, genaue Beschreibung und Analyse von einem Standpunkt der inneren Distanz aus Hauptaufgabe des Historikers sei. In diesem Sinne betrachtete er die Geschichte des Liberalismus vor dem Hintergrund des sich wandelnden Verhältnisses von politischer und gesellschaftlicher Verfassung, die Struktur und Entwicklung des Parteiwesens in der neueren Geschichte, die Wandlungen der Grundlagen und der Reichweite des modernen Staates, die Rolle und Bedeutung von Revolutionen und immer wieder die Probleme des Nationalismus und des Nationalstaates. Mit dem „Handbuch der europäischen Geschichte“ (7 Bände, 1968–87) regte er große zusammenfassende Darstellungen der Geschichte des europäischen Kontinents an, die zugleich weit in den außereuropäischen Raum hinausgriffen, und verfaßte selbst die beiden umfangreichen einleitenden Abschnitte über die Epoche zwischen 1870 und 1914 und über die Zeit seit dem 1. Weltkrieg. Dem schloß sich ein großes Werk im Rahmen der Propyläen-Geschichte Europas über die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts an (Staatensystem als Vormacht der Welt 1848-1918, 1977). 1983 veröffentlichte eine Biographie Friedrichs des Großen, die mit dem Untertitel „Ein Königtum der Widersprüche“ die Ambivalenzen Friedrichs und seines Staates darstellte und kritisch analysierte, das Ganze einfügend in ein auf zentrale Probleme der Zeit konzentriertes Bild der Epoche. Diese breite, viele Bereiche einbeziehende und zahlreiche Anstöße vermittelnde Dimension seiner wissenschaftlichen Arbeit bildete die Grundlage für eine überaus erfolgreiche wissenschaftliche Karriere und ließ ihn zu einer zentralen Figur der deutschen Geschichtswissenschaft werden – nicht zuletzt über seine zahlreichen Schüler, denen er mit großer Liberalität begegnete.
Autor
Gall, Lothar