Probleme und Bruchlinien der Verfassungsordnung

Die Bayerische Verfassung des Jahres 1818 zeigte sich in ihrer hundertjährigen Geschichte in vielerlei Hinsicht reformfähig. Allerdings machten die sozialen und politischen Veränderungen ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und vor allem nach der Jahrhundertwende Bruchlinien deutlich, die schließlich während des Ersten Weltkriegs vollends aufbrachen.

Dies betraf nicht zuletzt Forderungen nach politischer Teilhabe. Das Landtagswahlrecht in Bayern, das durch die Wahlgesetze 1848 und 1906 reformiert wurde, galt im innerdeutschen Vergleich zwar keineswegs als rückständig, blieb aber deutlich hinter dem ab 1871 geltenden Reichstagswahlrecht zurück. In Bayern blieb das Landtagswahlrecht bis 1918 nämlich von der Zahlung einer Steuer abhängig, was große Teile der Bevölkerung ausschloss. Ebenfalls von den Wahlen ausgeschlossen blieben, wie überall im Deutschen Reich, die Frauen, die seit der Jahrhundertwende ebenfalls Forderungen nach politischer Mitbestimmung erhoben.

Zudem kam bei den Landtagswahlen in Bayern, anders als bei den Reichstagswahlen, das Mehrheitsprinzip zur Anwendung. Dadurch wurde v.a. die wachsende städtische Bevölkerung gegenüber den ländlichen Regionen benachteiligt.

Als zunehmende Belastung wirkten sich außerdem fehlende sozialpolitische Reformen aus. In den 1880er und 1890er Jahren erlebte Bayern ein starkes Bevölkerungswachstum, das sich besonders in den Industriezentren und den bayerischen Städten bemerkbar machte. Forderungen nach angemessenen Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie vor allem einer staatlichen Arbeitslosenversicherung wurden hauptsächlich von den Sozialdemokraten formuliert. Die Umsetzung scheiterte aber fast durchgängig am Widerstand der Ersten Kammer des Bayerischen Landtags, der sogenannten Reichsrätekammer. Diese wurde in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg so immer mehr zu einem Hemmnis sozialpolitischer Reformen.

Tiefgreifende Veränderungen des Staatsgefüges schienen seit dem Tod Ludwigs II. (1845–1886, König 1864–1886) schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Auch wenn zahlreiche verfassungsverändernde Gesetze während der mehr als 26 Jahre dauernden Regentschaft für den kranken König Otto (1848–1916, König 1886–1916) verabschiedet wurden, blieben umfassende Reformen aus.

Nach der Thronübernahme Ludwigs III. (1845–1921, Regent 1912–1913, König 1913–1918) am 5. November 1913 verhinderte schließlich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 eine Reform der bayerischen Verfassung, für die König, Regierung und Landtagsmehrheit ohnehin nur wenig Sympathie aufbrachten. Erst in der schier ausweglosen Situation der letzten Kriegswochen im Oktober 1918 war die Bereitschaft zu Reformen vorhanden.