KulturErben verhandeln

Das Ererbte wird in einer erbenden Gemeinschaft daraufhin geprüft, inwieweit es zu ihr und ihrer Zeit noch passt. Speziell Fragen nach gemeinschaftlich getragenen Wertevorstellungen stellen sich dabei immer wieder – und nicht immer herrscht in einer Gruppe Einigkeit. Aber gerade auch entlang von solchen Konfliktlinien können konstruktiv neue Perspektiven auf das immaterielle Kulturerbe geschaffen werden.

So stellen sich heute beispielsweise Fragen zu einem würdigen Umgang mit Tieren im Sinne des Tierwohlgedankens neu. Auch wird hinterfragt, wer teilnehmen darf und wer nicht. So wird zum Beispiel der Ausschluss von Frauen bei manchen Bräuchen kritisiert, werden überlieferte sexistische und rassistische Praktiken beanstandet oder Relikte antisemitischer und nationalsozialistischer Deutungsmuster diskutiert. Manchmal führt das auch dazu, dass sich eine Gemeinschaft bewusst von Teilen ihres Erbes trennt.

Kulturelle Ausdrucksformen werden immer wieder neu betrachtet und damit verändern sie sich. Die KulturErben ermöglichen dadurch eine Anschlussfähigkeit ihrer Praktiken an Gegenwart und Zukunft – die zu einem späteren Zeitpunkt wahrscheinlich erneut auf den Prüfstand gestellt werden wird. Auch die heutigen Diskussionen und Veränderungen werden selbst bald zur Geschichte der jeweiligen Kulturformen gehören.

Inhalte verhandeln: die Agnes-Bernauer Festspiele

In Straubing kommen seit 1935 die mittelalterliche Stadtgeschichte und das Leben der Agnes Bernauer (gest. 1435) als Festspiel zur Aufführung. Das aus der Zeit des Nationalsozialismus stammende Libretto wurde seit den 1950er Jahren mehrfach überarbeitet, um dessen Einflüsse zu mindern. Radikal geschah dies Anfang der 1990er Jahre: Noch immer erkennbar ideologisch gefärbte Botschaften in den Sprechpassagen wurden sprachsensibel bearbeitet und es entstand eine Neufassung der erzählten Geschichte.

Auch die Ausstattung des Festspiels wird immer wieder neu verhandelt. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte findet Eingang in die Gestaltung der Kostüme: Welche Materialien und Formen können das Leben im 15. Jahrhundert treffend darstellen? Welche Quellen haben wir dazu? So wird beispielsweise anhand der Gestaltung der Schuhe das Ringen um die Suche nach Authentizität und Historizität sichtbar.

Echtheit verhandeln: der Oberpfälzer Zoigl

Echtheit und Authentizität gelten gerade beim Kulturerbe als hohes Gut. Aber wenn sich etwas immer wieder verändert – was ist dann das "Echte"? Die Bezeichnung "Zoigl" für ein spezielles untergäriges Bier aus der Oberpfalz ist nicht gesetzlich geschützt. Wer bestimmt also, was der "echte" Zoigl ist? Nur jenes Bier, das in den historischen Kommunbrauhäusern hergestellt wird? Oder jenes, das mit den gleichen Rezepten gebraut wird? Die "Echtheit" wird auch von jenen Zoigl-Fans geschaffen, für die die spezielle Form des Verzehrs und der Kommunikation in den oft temporären Zoigl-Stuben zentraler Teil der Zoigl-Kultur ist.

An der Weitergabe von Wissen und Können zum Zoigl und damit den Erhalt der Zoigl-Kultur haben verschiedene Trägergruppen Anteil. In den 1990er Jahren profitierten die privaten Kommunbrauer vom Brauwissen kommerzieller Brauereien, gerade vor dem Hintergrund neuer gesetzlicher Vorgaben. Die Beliebtheit des nicht standardisierten Zoigl-Bieres folgt dem modernen Gedanken, dass regionale Produkte "Spezialitäten" sind, wie dies beispielsweise auch in der Craft-Beer-Bewegung zum Ausdruck kommt. Was "echt" ist, das ist also immer auch eine Frage der Zeit.

Zugehörigkeiten verhandeln: die Oberammergauer Passionsspiele

Wer gehört eigentlich zu den KulturErben? Fragen nach Grenzen und Durchlässigkeiten eines gewünschten "Wir" sind für Gruppen teils umstritten. Wer zur aktiven Trägergruppe gehören soll und wer nicht, das ändert sich auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Oberammergauer Passionsspiele stehen beispielhaft für solche Wandlungsprozesse: Der Kreis der Mitwirkenden weitete sich mit einer diverser und säkularer werdenden Ortsgemeinschaft. Fragen von Geschlecht, Konfession und Religionszugehörigkeit werden jetzt anders beantwortet als in früheren Zeiten. Solche Schritte erfordern intensive Diskussionen innerhalb der Trägergruppen.

Ohne Nachwuchs kein Kulturerbe. Die Oberammergauer fühlen sich angesichts des demographischen Wandels aufgerufen, sich besonders auch jugendlichen Zuschauenden zu öffnen. 2022 wird erstmals mit einem den Passionsspielen vorgeschalteten Jugendfestival eine Dialogplattform geschaffen. Im Rahmen der Generalproben des Festspiels soll damit ein Austausch mit jungen Leuten über die Werte des eigenen immateriellen Kulturerbes initiiert werden, der sich mit inter- und überkonfessionellen Fragen und anderen relevanten Themen zu globalen Problemen auseinandersetzt.

Tierwohl verhandeln: die Tölzer Leonhardifahrt

Im Mittelpunkt der Tölzer Leonhardifahrt steht die Segnung der Pferde. Alle Tiere werden für die Wallfahrt geschmückt, manche dienen als Reitpferde und andere ziehen die Truhen- und Kastenwagen. Ihre Aufgaben im Festumzug sind sehr anspruchsvoll: Ein forderndes Gelände, oft ungewohnte Reiter und die Begegnung mit der Zuschauermenge entlang des Weges müssen vom tierischen Partner bei der Wallfahrt bewältigt werden.

Das Wissen über die körperlichen Fähigkeiten und die Charaktereigenschaften der Zugtiere, das einen guten "Rosserer" ausmacht, trifft zunehmend auf eine öffentliche Auseinandersetzung um Fragen des Tierwohls. In ihr werden gesellschaftlich verbreitete Vorstellungen von Tierwohl und Sicherheit mit den lokalen Fahr- und Reitpraktiken konfrontiert. Als ein Ergebnis kam es zum Verbot des schnellen Trabens beim Reiten auf der Marktstraße.

Zur Ausstellungseinheit: KulturErben erneuern