Abnormitäten- und Völkerschauen

In diesem Ausstellungskapitel werden rassistische, diffamierende und menschenverachtende Darstellungen auf dem Oktoberfest thematisiert. Eine Auseinandersetzung mit diesen Objekten soll für Formen der Diskriminierung und des Rassismus im Kontext von Imperialismus und Kolonialismus sensibilisieren und zum Hinterfragen bis heute tradierter Stereotype beitragen.

Seit etwa 1850 entwickelten sich sog. "Völkerschauen" zu beliebten Veranstaltungen in den europäischen Kolonialmächten. In Deutschland kamen sie nach der Reichsgründung 1871 auf. Populär machte sie der Hamburger Tierhändler und Zoodirektor Carl Hagenbeck (1844-1913).

Auf dem Oktoberfest präsentierte Hagenbeck im Jahr 1879 eine "Nubierkarawane" mit Menschen aus Ägypten und verschiedenen Tierarten wie Elefanten, Kamelen und Eseln. Es war die erste Zurschaustellung "exotischer Menschen" auf der Wiesn. Bis in die 1930er-Jahre hinein prägten diese menschenverachtenden Inszenierungen das Schaustellerareal auf der Theresienwiese und faszinierten als "Kuriosität" das Festpublikum. Das Oktoberfest entwickelte sich im Laufe der Zeit für Bayern zum zentralen Ort für völkerkundliche Präsentationen. Die Schauen sollten der Bevölkerung zunächst die Kolonialpolitik der Reichsregierung nahebringen. Dafür wurden in den sogenannten "Völkerschauen" Gruppen von Menschen aus den europäischen Kolonien (aber auch anderen Ländern) unter dem Vorwand eines "ethnologischen" Interesses "ausgestellt". Deutlich wurde in diesen Präsentationen auch der durch den Imperialismus und Kolonialismus gesteigerte Hang zum "Exotischen" und "Fremden".

Beduinenlager: Karawane mit 70 Personen, Bazar mit Handwerkern, arabisches Cafe, Szenen aus der Wüste, Reitervorstellungen

1901
  • München

Nahezu jede der pseudowissenschaftlich aufgebauten Schauen folgte einem ähnlichen Inszenierungsmuster. Stereotype, die mit den als "fremd" wahrgenommenen Völkern verknüpft waren, wurden dabei gezielt bedient und unter dem Deckmantel der "Authentizität" inszeniert. Die Veranstalter der "Völkerschauen" nutzten alle verfügbaren Mittel der Werbung, um die aufwendig gestalteten Schauen publik zu machen. Neben den üblichen Zeitungsannoncen gehörten dazu auch Paraden, gezielte Werbeaktionen und Aufmerksamkeit erregende Werbeplakate.

Einer der bedeutendsten Münchner Schausteller war Carl Gabriel (1857-1931) aus Bernstein in der Neumark (heute Pełczyce, Polen). Der erfolgreiche Großunternehmer "bereicherte" das Oktoberfest regelmäßig mit neuen Attraktionen. So etwa 1895 mit der Hexenschaukel, 1902 mit dem Hippodrom und 1910 mit dem Teufelsrad. Hinzu kamen "Abnormitätenschauen" und Menagerien, welche sich um den Jahrhundertwechsel großer Beliebtheit beim Festpublikum erfreuten. Doch auch außerhalb des Oktoberfestes sorgte Carl Gabriel für die Unterhaltung der Münchnerinnen und Münchner. Mit Eduard Hammer unterhielt er in der Münchner Innenstadt ein Panoptikum, in dem er ab 1897 erste Filmvorführungen in München zeigte. 1906 eröffnete er als eine das "Gabriel-Kino" und einige Jahre später den ersten Kinopalast. Besondere Berühmtheit erlangte Gabriel jedoch durch seine "Völkerschauen", die er seit 1901 auf dem Oktoberfest präsentierte.

Carl Gabriel (1857-1931)

1930
  • Philipp Kester (1873-1958)

Illustrierte Münchener Oktoberfest-Nachrichten der Unternehmungen Carl Gabriel 's 1925 : mit einem großen Plan der Festwiese und Führer durch die Schaustellungen

1925
  • München

Die menschlichen Statisten dieser von Rassismus geprägten Inszenierungen gerieten aufgrund ihrer unterprivilegierten Stellung und dem bestehenden kolonialen Machtgefüge in Abhängigkeiten. Oft führten finanzielle Motive dazu, dass sich ganze Gruppen aus den Kolonialgebieten für die Schauen in Europa anwerben ließen. Unter Aufsicht der örtlichen Behörden wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts häufig ein Vertrag zwischen dem Händler und der Gruppe abgeschlossen, welcher eine ausreichende Versorgung und eine sichere Heimkehr der Beteiligten gewährleisten sollte. Zudem wurden Arbeitszeiten, Bezahlung, konkrete Aufgaben sowie die ärztliche Versorgung vertraglich festgehalten. Nachdem viele der Indigenen während des Aufenthaltes in Europa durch Krankheiten getötet wurden, wurde zudem eine Impfung vor der Einreise obligatorisch. Trotz dieser Vorkehrung litten viele von ihnen an den gesundheitlichen Folgen der anstrengenden Reise oder schleppten bei der Rückkehr in ihre Heimat europäische Krankheiten ein.

Um die Jahrhundertwende gehörten auch die ursprünglich aus Amerika stammenden, sogenannten "Abnormitätenschauen" oder "Freakshows" zu beliebten Attraktionen auf dem Oktoberfest. Die Schauen inszenierten körperliche Abweichungen von der Norm als skurriles Faszinosum und bedienten damit den Voyeurismus. Auf den Bühnen hinter den aufwendig gestalteten Fassaden der Festzelte wurden Menschen mit den unterschiedlichsten körperlichen Anomalien und Beeinträchtigungen vorgeführt. Darunter befanden sich unter anderem siamesische Zwillinge, "Haarmenschen", "Vogelmenschen", Personen mit fehlenden Gliedmaßen, extrem korpulente, schmächtige, große oder kleine Persönlichkeiten, die als menschliche "Attraktion" zur Schau gestellt wurden.

Abnormitätenschau auf dem Oktoberfest 1913

1913
  • Georg Pettendorfer (Fotograf)
  • München
  • Theresienwiese

Die Teilhabe am alltäglichen Leben blieb den auf der Bühne zur Schau gestellten Menschen verwehrt. Für viele von ihnen boten die Schauen oft die einzige Möglichkeit, an der Gesellschaft zu "partizipieren". Da es sich bei diesen Vorführungen um ein äußerst lukratives Geschäft für die Veranstalter handelte, gab es großen Bedarf an geeigneten Darstellerinnen und Darstellern. Agenturen suchten teils weltweit nach Kindern mit Anomalien, die sie ihren meist verarmten Eltern dann abkauften.

Im Jahr 1926 präsentierte Karl Gabriel (1857-1931) auf dem Oktoberfest eine Schau, in der er die "drei dicksten und schwersten Kollosalmädchen der Gegenwart" als "7. neuestes Weltwunder" ankündigte. Die Konkurrenz in diesem Metier war so groß, dass die unterschiedlichen Veranstalter der Schauen versuchten, sich mit ihren menschlichen "Attraktionen" immer wieder gegenseitig zu übertreffen. Bedauerlicherweise ist recht wenig über die meisten der in diesen Schauen "präsentierten" Menschen bekannt. Ziel der wissenschaftlichen Forschung in den nächsten Jahren wird es sein, diesen Menschen ein "Gesicht" zu geben und deren Lebenswege aufzuspüren.

Die drei dicksten Mädchen Elsa, Elvira und Berta

1926
  • Berlin-Neukölln

Die Nationalsozialisten unterdrückten bereits zu Beginn der 1930er-Jahre systematisch die öffentliche Zurschaustellung körperlich andersartiger Menschen, die nicht der "Rassenlehre" entsprachen. Lediglich klein- und großwüchsige Menschen durften weiterhin auftreten. Als "Zwerge" oder "Riesen" bezeichnet, präsentierten diese deutsche Märchen- und Mythenerzählungen. Im Zuge der nationalsozialistischen "Euthanasie"- Programme begann 1939 die systematische Ermordung von Menschen mit Behinderungen, deren Leben im Sinne der NS-Ideologie als "lebensunwert" galt. Insgesamt etwa 200.000 bis 300.000 Menschen wurden im Rahmen der "Euthanasie"-Aktionen in ganz Europa getötet.

Mit dem wachsenden Einfluss des Nationalsozialisten änderte sich die Sicht auf die "Völkerschauen" deutlich. NS-Politiker argumentierten, die Gefahr einer "Rassenvermischung" sei zu groß, um sie weiterhin anbieten zu können. Den Kontakt zu indigenen Völkern empfanden sie als Bedrohung. Die letzte "Völkerschau" auf dem Oktoberfest vor dem Zweiten Weltkrieg fand bereits im Jahr 1931 statt.

Die allerletzte "Völkerschau" gastierte jedoch erst im Jahr 1959 auf dem Oktoberfest. Der Schausteller Rudolf Feldl (1919-1970) bewarb unter den Parolen "Leuchtende Südsee", "Das Hawaii-Dorf" und "Feldl’s Völkerschau Hawaii" seine Zurschaustellung dieser "fremden Kultur". Der Inselstaat Hawaii wurde in diesem Jahr nach einem Volksentscheid als fünfzigster Bundesstaat Teil der USA und rückte somit in das Interesse der breiten Öffentlichkeit. Fast 150 Hawaiianerinnen und Hawaiianer, darunter auch Kinder, erweckten die aufwendig gestalteten Kulissen auf der Theresienwiese zum Leben. Die Inszenierung avancierte schnell zum Besuchermagnet. Auf der hier präsentierten Fotografie ist der Haupteingang dieser "Attraktion" zu sehen. Neben dem Ausrufer, der die Wiesnbesucher zum Eintritt animierte, treten die "schöne[n] Hawaiimädchen" auf. Unter den Darstellerinnen sind auch Kinder zu sehen die im Rahmen der Inszenierung instrumentalisiert wurden.

Die Fotografie zeigt eine exotisierende und diskriminierende Darstellung des "Anderen" und greift damit die zeitgenössisch ausgeprägte Faszination für das "Fremde" auf. Diese Vorstellung verfestigte sich im Zuge imperialistischer Bestrebungen und Kolonialgeschichte. Die im Rahmen dieser Attraktion gezeigten Darstellerinnen und Darsteller wurden alleine durch ihre als exotisch wahrgenommene Herkunft in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt und kulturelle Stereotype gewinnbringend inszeniert und so reproduziert.

„Völkerschau Hawaii“ von Schausteller Rudolf Feldl aus München

1959

Der aufkommende Ferntourismus machte die "Völkerschauen" für einen wachsenden Teil der Bevölkerung überflüssig. Die "exotischen Abenteuer" mussten von nun an nicht mehr inszeniert werden, sondern waren "authentisch" vor Ort erlebbar. Hinzu kam die zunehmend kritische Auseinandersetzung mit der Zurschaustellung als "exotisch" deklarierter und diffamierter Menschen.

Matthias Bader, Julia Misamer