Illusions- und Wunschwelten
Illusionswelten
Ludwig II. von Bayern (1845-1886) ist der weltweit bekannteste Exponent und Kontrahent seiner Epoche. Kontrahent, weil er gegen Zeitströmungen orientiert war: Nationalismus, Kapitalismus, Politisierung. Durch die strikte Ablehnung seiner zugewiesenen Aufgabe als konstitutioneller Monarch wurde er Exponent: als konsequentester Verwirklicher der Absichten des Historismus; nicht nur repräsentativ wie bei Adel und Bürgern zu dieser Zeit.
Er schuf eine Gegenwelt zur Umsetzung seines Lebenskonzepts, nicht wie bei seinen Zeitgenossen gelegentliche historisierende Rückzugsorte zur Rekreation. Bei ihm jedoch war es Beschwörung der Geschichte, nicht nur ihre Darstellung und Pflege. Schloss Neuschwanstein als Denkmal der Kultur und des Königtums des Mittelalters, Schloss Herrenchiemsee und Schloss Linderhof als Denkmäler des absolutistischen Königtums fokussieren die geistigen und kulturellen Bestrebungen ihrer Zeit, weil sie durch die Intensität und Unbedingtheit ihres Bauherrn unvergleichliche konzeptionelle und kunsthandwerkliche Qualität aufweisen.
Ein Hauptziel der europäischen Kunst des 19. Jahrhunderts war die Erschaffung des Gesamtkunstwerks. König Ludwig II. von Bayern hat mit seinen Schlössern die epochale, idealistische Idee des Gesamtkunstwerks zu ihrer architektonischen Vollendung geführt. Seine Bauten sind die weltweit bekanntesten baulichen Zeugnisse der europäischen Kultur des 19. Jahrhunderts.
Uwe Gerd Schatz
Wunschwelten
Ludwig II. befasste sich seit 1869 mit der Kultur von Byzanz und dessen Kaisertum. Seine immer stärker werdende Identifikation ließ zwei Projekte zu "Byzantinischen Palästen" entstehen. Beide Kaiserpaläste sollten in der Umgebung Linderhofs im Graswangtal errichtet werden, eben in der ideellen und dynastischen Nachbarschaft des Ritterstifts Ettal von Ludwigs II. kaiserlichem Vorfahren Ludwig dem Bayern (Kaiser 1328-1347), auf den er sich bezog.
Bereits 1869 ließ sich Ludwig II. von Hofarchitekt Georg Dollmann (1830-1895) ein erstes Projekt zu einem byzantinischen Palast entwerfen. Aus der gleichen Zeit finden sich im Nachlass Ludwigs II. umfangreiche Notizen über das Zeremoniell am Kaiserhof von Byzanz.
In dem Projekt gruppierte Dollmann die geschilderten und verlangten Bauten freistehend. Julius Hofmanns (1840-1896) Projekt von 1885 ist festungsartig kompakt. Im Jahr 1886 ließ sich Ludwig II. von Julius Hofmann einen Chinesischen Sommerpalast entwerfen. Als Vorbild wählte er den kaiserlichen Sommerpalast Yuanming Yuan ("Garten des vollkommenen Lichts") nahe Peking. Ludwig hatte in französischen Publikationen über diese weltberühmte Anlage gelesen und sich auch über den Winterpalast in Peking und über das chinesische Hofzeremoniell informiert.
Die ab 1883 geplante Burg Falkenstein sollte ein Schlafzimmer erhalten, das die Verschmelzung von byzantinischem Kaiser, Ludwig IX. dem Heiligen (1214-1270) und Ludwig XIV. (1638-1715) geworden wäre - eine faszinierende Klimax aller Ideale des späten Ludwig II.
Uwe Gerd Schatz
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